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Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)

Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)

Titel: Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Saalfrank
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Durchschnitt jedenfalls, bei manchen Kindern bleibt etwas mehr davon erhalten, bei anderen noch weniger, je nachdem, wie und wofür sie ihr Frontalhirn nutzen. Aber am Anfang ist immer mehr da. Das kindliche Gehirn strukturiert sich aus der Fülle heraus und nicht programmgesteuert.
    Katharina Saalfrank: Das ist doch erst mal sehr beruhigend.
    Gerald Hüther: Ja, es wird von der Natur, von diesen genetischen Programmen, dafür gesorgt, dass dieses Kind mit einem riesigen Überschuss an Verknüpfungsmöglichkeiten in seinem Hirn ins Leben geschickt wird. Das nenne ich Potenzial. Das heißt, jedes Kind bringt viel mehr mit, als es da draußen in der Familie, in der es aufwächst, und in dem Kulturkreis, in der Stadt, wo es groß wird, und bei den Menschen, mit denen es zusammenlebt, tatsächlich braucht. Man könnte deshalb auch ironisch sagen: Weil es ja unmöglich ist, überall gleichzeitig aufzuwachsen und alle nur möglichen Erfahrungen zu machen, ist unser Gehirn, wenn wir erwachsen geworden sind, immer nur eine Kümmerversion dessen, was daraus hätte werden können.
    Daraus ergibt sich eine ziemlich dramatische Schlussfolgerung, die heißt nämlich: Jedes Kind ist hochbegabt.
    Katharina Saalfrank: Ich sehe in der Pädagogik eine Parallele. Die Entwicklungspsychologie hat in den letzten Jahrzehnten intensiv geforscht, und so wissen wir heute, dass Kinder nicht als »halb fertige« Menschen zur Welt kommen, wie man das früher dachte, sondern dass sie mit vielen Kompetenzen und einer Fülle von Fähigkeiten ausgestattet sind. Das heißt, die These, dass Kinder Erziehung brauchen, weil sie erst dadurch zum Menschen werden, ist obsolet.
    Gerald Hüther: Ich verwende den Begriff Kompetenzen etwas anders. Kompetenzen sind etwas, das man schon hat. Aus meiner Sicht kommen Kinder mit ganz vielen Entwicklungsmöglichkeiten zur Welt. Und was dann daraus wird und welche Kompetenzen ein Kind dann tatsächlich ausbildet, das hängt eben immer davon ab, welche Erfahrungen es macht.
    Katharina Saalfrank: Das heißt also, dass es beides gibt. Bereits erworbene Kompetenzen und auch eine Fülle von Entwicklungsmöglichkeiten, aus denen auch noch bestimmte Fähigkeiten werden könnten. Früher hat man ja gedacht, ein Säugling sei passiv und habe noch gar keine Fähigkeiten. Heute wissen wir, dass Kinder auch in diesem Alter schon sehr aktiv ihre Umwelt wahrnehmen und beispielsweise auch Stimme und Gesicht der Mutter bereits nach kurzer Zeit verknüpfen können. Mit Kompetenzen meine ich zum Beispiel auch eine bestimmte Feinfühligkeit für Stimmungen, die Säuglinge bereits haben, eben die Fähigkeit, bestimmte Reize anders wahrzunehmen als wir Erwachsene, die wir diese Differenzierung sozusagen nicht mehr vornehmen im täglichen Leben.
    Gerald Hüther: Ja, und auch diese angeborene Entdeckerfreude, die angeborene Neugier, diese angeborene Offenheit und diese angeborene Vorurteilslosigkeit, die dazu führt, dass Kinder sich gewissermaßen auf alles einlassen können, was es in dieser Welt gibt. Und es ist ja auch gut so, dass das so ist, weil sie auf diese Weise auch vorurteilsfrei in der Lage sind, sich ihrer Bezugsperson hinzugeben, die sie auf ihrem weiteren Weg begleitet. Wir Erwachsene können uns das gar nicht mehr so recht vorstellen, dass man so vorurteilsfrei jemanden lieben kann, wie das ein kleines Kind kann.
    Katharina Saalfrank: Meine Erfahrung als Pädagogin, Therapeutin und auch als Mutter ist, dass uns Erwachsenen einige Kompetenzen abhandengekommen sind. Dass wir oft nicht mehr diese Feinfühligkeit besitzen, nicht diese unheimlich feinen Antennen haben, dass wir auch ein Stück der Empathie verlieren, die Kinder haben. Dass wir so die Freude an dem Kleinen verloren haben und uns oft die Begeisterung, die man bei kleinen Kindern sieht, abhandengekommen ist. Das sind alles Dinge, die Kinder wieder in uns wecken und durch die wir auch von den Kindern profitieren können.
    Gerald Hüther: Wir haben ja selbst auch diesen Sozialisationsprozess durchlaufen, der dazu führt, dass Kinder vieles von dem, was sie an besonderen Talenten, Begabungen und Potenzialen mitbringen, nicht entfalten können.
    Katharina Saalfrank: Aber warum ist das aus der Sicht des Hirnforschers so? Baut das Hirn diese Fähigkeiten einfach wieder ab?
    Gerald Hüther: Nein, das passiert nicht automatisch. Das ist die Folge der Tatsache, dass ein Kind in eine Welt hineinwächst, in der ihm signalisiert wird, dass es so, wie es ist, nicht »richtig«

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