Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
dem Geleise gekommen? fragt der besorgte Vater. Der bürgt inzwischen für die Schulden des Sohnes. Er schickt ihm medizinische Hausaufgaben, in der Hoffnung, er, der Vater, könne ihn ein wenig prüfen und nebenbei etwas über die Ursache der eigenen Beschwerden erfahren: Seit vorigen Sommer, stärker oder schwächer spüre ich (mit wenig Unterbrechung) einen ich kann nicht sagen faulen, aber ziemlich merklichen Geruch, wie schlechte Bratendünste aus einer Küche od. dgl.; so daß es mir oft lästig ist; dabei ist mir, als könne ich durch dieses Nasenloch die Luft höher aufziehen als durch das andere. Woher kommt das? Fault es oben im Gehirn?
All dieses Abrackern für den Sohn! Storm fragt sich selber: Es kommt mir oft seltsam vor, daß ich für einen dreißigjährigen Sohn all diese Mühwaltungen auf mir habe, während dieser sich fidel um nichts kümmert . Ja, warum legt sein Vater sich so ins Zeug? Er ist doch sein Kind! Das sagt man und kapiert. Kapiert gleichwohl nicht: Welcher Sohn möchte so einen Vater, und welcher Vater möchte so einen Sohn haben?
Storm legt sich nicht allein ins Zeug. Nachdem Lisbeth mit bestandener Prüfung das Konservatorium in Stuttgart verlassen hat, schickt er sie als Hilfskraft nach Heiligenhafen; sie soll ihrem Bruder den Haushalt führen. Schwerpunkt erstens: aufpassen, dass er nicht säuft, zweitens: Rechnungen schreiben und Kasse führen. Lisbeth als Älteste ist die erste Schwester, die dem Bruder als Hausgehilfin zur Seite stehen muss. Sie wird nicht die letzte sein. Nimm nun dieses große Opfer nicht, wie alle bisherigen, gedankenlos hin; es ist in Wahrheit der letzte Versuch zu Deiner Rettung, schreibt Storm an Hans. Im Dezember 1878 begleicht Storm Würzburger Schulden des Sohnes. Sind damit die Gläubiger dort ausbezahlt? Er fragt Hans, welches Schicksal er denn erwarte für die rohe, selbstsüchtige Undankbarkeit, mit der Du unsere grenzenlosen Opfer vergiltst, und für Dein viehisches Laster, das alles Menschliche in Dir verwüstet. Welcher Alkoholiker zieht da nicht den Kopf ein und flüchtet, wenn der Vater so spricht? Eine Woche später schreibt Storm einen Weihnachtsbrief nach Heiligenhafen. Der Konkurs, von dem schon eindringlich und weitsichtig im »Carsten Curator« die Rede ist, droht nun auch bei Hans. Ich will Dir nicht Alles zur Last rechnen, der Blutstropfen, der aus Großvaters Geschlecht kommt, mag einen Theil Deines großen Unglücks, Deiner großen Schuld und des mein Leben zerstörenden Kummers tragen; aber darin liegt Deine Schuld, daß Du, obgleich Dir Deine Schwäche nicht verborgen bleiben konnte, Dich ganz darin hast gehen lassen, ohne auch nur einen Versuch zu machen, Dich aufs feste Land zu retten –. Am Ende die Bitte um Verständnis: Du wirst diesen Brief wohl am Morgen des Weihnachtsabends erhalten; schieb ihn nicht kalt von Dir; denn es ist Deines Vaters Herz darin , schließt mit Wünschen für Lisbeth und Hans und mit einer Mahnung: Möge der Weihnachtsabend und der Weihnachtssonntag Euch beide recht still und friedlich bei einander sehen! Und zwischen dem Feste setzt Ihr Euch dann hin und schreibt rasch und fleißig Eure Rechnungen aus .
Vater, Töchter und Söhne
Nach einem Schlaganfall im August 1878 ist Storms Mutter Lucie schwer behindert; kaum kann sie noch sprechen. Zuletzt liegt sie in festem Morphium-Schlaf und stirbt nach schwerem Todeskampfe Ende Juli 1879. Am 1. August wird sie beerdigt. Pastor Maaß hat sie noch im offenen Sarg gesehen, um vor dem Trauergottesdienst eine Vorstellung von ihrer Persönlichkeit zu bekommen. Alle fünf Storm-Töchter folgen dem Sarg, auch Ernst geht mit, nur Karl und Hans fehlen. W ährend M. am Grabe sprach, sang höchst lieblich ein Vogel aus einem nahen Busche, berichtet Storm seinem Sohn Karl. Die Wittwe des weiland Justizraths Advokaten Johann Casimir Storm wurde zweiundachtzig Jahre alt. Mit Lucies Tod hat die über hundertjährige Geschichte des alten Familienhauses ausgespielt, schreibt Storm an Erich Schmidt. Das Elternhaus soll möglichst umgehend verkauft werden. Der reich verheiratete Katasterkontrolleur Ingwersen erwirbt es schon im Januar 1880 von den vier Storm-Brüdern für 27 000 Mark.
Fest und zukunftsfroh sieht Storm auf seinen letzten Lebensabschnitt. Die fünf Töchter sind keine Sorgenkinder wie die Söhne, vermutlich auch deswegen, weil sie nicht dem Leistungsdruck ausgesetzt sind wie ihre Brüder. Lisbeth, die Älteste, hat während ihrer Zeit bei ihrem Bruder in
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