Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
Verseschmied hatte Storm sein Prosagedicht »Mattathias, der Befreier der Juden« vorgetragen. An das darauf folgende Gespräch mit dem Tuchhändler aus Friedrichstadt erinnert sich der Dichter später, zu ihm spricht Storm in seinen Erinnerungen aus über dreißig Jahren Abstand: Wer weiß, ob nicht die Freundlichkeit, die du dem Knaben einst erwiesest, den Keim jener Zuneigung gelegt hat, die ich deinem Volk stets bewahrte, und die mir auch der schmutzigste Schacherjude nicht hat stören können .
Während des Potsdamer Exils berichtete Storm seinen Eltern über die Begegnung mit jüdischen Pferdehändlern, die in der Nachbarschaft lebten und deren Kinder mit den Storm-Kindern spielten. Vertrauen müssen Constanze und Theodor zu diesen Menschen gehabt haben, keine Berührungsangst. Auch in Heiligenstadt vertrauten die Storms jüdischen Pferdehändlern; diese nahmen Sohn Hans gegen Bezahlung mit auf die lange Reise nach Husum, wo sie den Pferdemarkt besuchten. Geachtet und ehrenwert seien sie gewesen, so schildert Storm sie.
In Heiligenstadt schloss Storm Freundschaft mit Ludwig Löwe (1837–1886) ehemals Levi; er war der Sohn des Lehrers der jüdischen Gemeinde und verehrte den Dichter. Und der Dichter bewunderte den höflichen, tüchtigen jungen Verehrer, sah mit Kummerblick auf seine Söhne, wenn er Löwes beneidenswerte Karriere musterte. So einer passte auf die Söhne-Wunschliste, wo schon Ferdinand Tönnies notiert war, Hans Speckter und Erich Schmidt kamen später hinzu.
Storms Umgang mit Juden war ohne Reserve und Vorurteil. Heinrich Heine, seinen Dichtergott, der sich übrigens in Heiligenstadt hatte christlich taufen lassen, nahm er nicht als jüdischen Dichter, sondern als deutschen wahr; dessen jüdische Themen bedeuteten ihm nichts. In einem Brief an Erich Schmidt bezeichnete er Heine mit einem Seitenhieb auf Intimfeind Geibel als unsern größten lyrischen Formkünstler; und fügte reichlich ungereimt hinzu: Ich kann nichts dafür, daß er ein Jude war .
Karl Emil Franzos und Emil Kuh, beide Dichter und Kritiker, waren für Storm wichtige Persönlichkeiten, ihr Judentum war ihm gleichgültig. Berthold Auerbach, der jüdische Dichter aus dem Schwarzwald, war ihm mit seinen Dorfgeschichten, die er seinen Kindern vorlas, so lieb wie Julius Rodenberg, der Auerbach als Mitherausgeber für die »Deutsche Rundschau« umwarb; beide wiederum schätzten Storm, und Rodenberg druckte im ersten Heft eine Novelle von ihm.
Dass unter den Komponisten, die Storm mit seinem Chor aufführte, auch der Jude Ferdinand Hiller (1811–1885) war, verwundert darum nicht, wohl aber muss man hervorheben, dass sein Oratorium »Die Zerstörung Jerusalems«, dessen Text der jüdische Schriftsteller Salomon Steinheim (1789–1866) schrieb, ein zutiefst jüdisches Werk ist; es erzählt von der Vertreibung des jüdischen Volkes und seiner babylonischen Gefangenschaft. Storm führte das Stück kurz vor seinem Abschied von Heiligenstadt auf, war zutiefst bewegt und drohte in Tränen auszubrechen , als aus den Klageliedern des Jeremias das Du wirst ja dran gedenken, denn meine Seele sagt es mir erklang. Es war nicht der Text, der ihn überwältigte, sondern die Musik. Kaulbachs dazu passender Kupferstich »Die Zerstörung Jerusalems« war das Abschiedsgeschenk des Heiligenstädter Chores; Storm ließ es von Constanze besonders gut für den Umzug nach Husum verpacken.
Auch Mendelssohn hatte für Storm besondere Bedeutung, nicht nur wegen der von ihm geliebten Musik, sondern auch wegen Paul Heyse. Der war durch seine Mutter Julie, geborene Salomon, jüdischer Abstammung und Julie Salomon war eine Kusine von Lea Mendelssohn, der Mutter von Felix. Da haben wir auch den Grund, warum Storm seinen treuen Freund als den Mendelssohn der Novelle bezeichnete.
Storm ein Antisemit oder einer, der ein »bisschen« davon hat, wie Thomas Mann meint? Storms antisemitische Reflexe sind nur Randerscheinungen; sie machen ihn nicht zum Antisemiten.
Fährt die Zeit fort, uns leise zu verschlingen
Abkühlung tut gut nach ein paar heißen Tagen. Der Garten gedeiht. Erbsen und Erdbeeren, Kirschen und Stachelbeeren hängen zur Ernte bereit an Kraut, Baum und Strauch. Den Dichter Geibel, den alten Donnerer , hat die Zeit vor drei Monaten verschlungen. Was hat Storm empfunden bei der Todesnachricht? Das Braune Taschenbuch vom 12. April 1884, sechs Tage nach Geibels Tod, enthält dazu vier Verse: Die Form war dir ein goldner Kelch, / In den man goldnen
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