Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
dass er das ebenfalls kann, fügte Storm dem Titel seiner neusten Novelle »Zur Chronik von Grieshuus« die Jahreszahlen 1883–84 hinzu, schreibt Tochter Gertrud in ihrer Biographie. Das sieht aus nach zwei Jahren Arbeitszeit; in Wahrheit schafft Storm aber ein erstaunliches Pensum, innerhalb von zehn Monaten ist die Arbeit erst mal getan. Er beginnt damit im Mai 1883 – sogar während der nächsten »Storm-Saison« in Husum, die jedes Jahr Anfang Januar fällig ist, um Bruder Aemil und den Freund Reventlow zu besuchen, lässt er nicht locker – und am 9. März 1884 schreibt er an Wilhelm Petersen: um 10 Uhr that ich den letzten Strich. Es ist meine größte Arbeit, und mir ist recht leicht, da sie fertig ist . Die Erleichterung hält nicht lange an, denn schon bald plagen wieder Zweifel und Unzufriedenheit. Aber auch eine Nachbehandlung kann Storm erst endgültig zufrieden stellen, als Freund Heyse, voll des Lobes, entwarnt: Laß Dich umarmen, Du hast mir eine große Freude geschafft. Storm trinkt das Lob des Münchner Freundes wie eine dringend benötigte Droge. So dauert die ganze Arbeit an »Grieshuus« alles in allem fünfzehn Monate, für Storm eine ungewöhnlich lange Zeit; sie ist den Einsatz wert gewesen. Nur eines wurmt Storm noch: die neue Rechtschreibung. Westermann besteht darauf, sein Autor muss sich fügen und unter anderem akzeptieren, dass es im Duden »Heide« anstatt »Haide« heißt. Storm ist wütend, und wir erleben ihn in seiner Antwort an Westermann von seiner ergötzlichen Seite: Also lassen wir »Heide« stehen! Aber die fröhliche Dummheit der neuen Orthographie wird das deutsche Schriftwerk noch völlig in den Dreck schieben . Danach erscheint »Grieshuus« als Fortsetzungsdruck im Oktober und November 1884 in »Westermanns Monatsheften«. Die Gebrüder Paetel in Berlin verlegen das Buch schon im November 1884. Storm widmet es seinem Bruder Aemil.
Wer hat mir all die Schönheit gegeben? fragt die Novelle. Sie überfällt uns schon gleich zu Anfang: Der Ich-Erzähler, in den Storm wieder einmal schlüpft, führt uns über die Heide, die er aus der Jugendzeit kennt, von den Ausflügen nach Hattstedt und Olderup und zum Immenstedter Forst. Erinnerungen an das Gedicht »Abseits«, an die Novellen »Ein grünes Blatt« und »Waldwinkel« werden wach. Hier, nördlich von Husum, liegt die Landschaft um »Grieshuus«, den sagenumwobenen ehemaligen Herrensitz von Arlewatt, der zu Storms Zeiten schon nicht mehr stand. Das Interesse an diesem Thema rührt auch daher, dass Ingwer Woldsen, einer seiner Vorfahren mütterlicherseits, hier dem Herzog als Verwalter diente.
Storms großartige Naturschilderung am Beginn klingt wie ein Abgesang auf die »Haide«, die demnächst als »Heide« umgebrochen und in eine landwirtschaftliche Nutzfläche verwandelt werden wird. Diesen Abgesang erlebt der Leser auch im weiteren Verlauf der Erzählung mit den alten Storm-Themen Natur und Spuk, Fabel und Geschichte, Liebe und Tod, Eifersucht und Hass.
Der Dichter lässt seine Geschichte hier und in einer sorgfältig erkundeten Zeit des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts spielen; Zeit der »Polackenkriege« und des Nordischen Krieges, die auch Nordfriesland nicht verschonten. Soldatenhaufen ziehen mordend und plündernd durch das Land.
Erzählt wird eine Geschichte von gnadenloser Spannung, die Wolfsjagden, Kriegstreiben und einen Brudermord aushalten muss. Erzählt wird auch – das ist bei Storm nicht verwunderlich – eine Liebesgeschichte, um die sich noch zwei weitere ranken. Hier wird sie ohne Kitsch und sexuell aufgeladene Kindfrau erzählt.
Klingt nicht die geheime Liebe von Storm und Doris Jensen an, wenn die Rede ist von der heimlichen, nicht standesgemäßen Liebe zwischen Junker Hinrich und dem einfachen Mädchen Bärbe? Aber auch von heimlichster Liebe geht ein Schimmer aus, der sie verrät, heißt es da. Sehen wir nicht die sterbende Constanze als Bärbes Tochter Henriette, die Mutter des Junkers Rolf, wenn sie ihren Sohn noch einmal am Sterbelager empfängt und sagt ich sterbe nun ? Auch Constanze hatte ihren Sohn Ernst so an ihrem Sterbelager empfangen.
Storm fügt dieser Novelle einen neuen Ton hinzu, der seinem immer wachen Gerechtigkeitssinn entspringt und aufhorchen lässt. Die menschlichen Größen Einsicht und Versöhnung lässt er eine tragende Rolle spielen, und dem Leser wird das ergreifend vorgeführt. Junker Hinrichs Jähzorn, den er auf seinen Sohn Rolf weitervererbt, wie Storms
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