Du kannst mich einfach nicht verstehen: Warum Männer und Frauen aneinander vorbeireden (German Edition)
kleinen Tisch gegenübersitzen, sich tief in die Augen sehen und sich erzählen, wie verliebt sie waren und wie glücklich die neue Beziehung sie beide machte. Doch alles kam ganz anders, als sie es sich in ihrer romantischen Vorstellung ausgemalt hatte: Als sie den Frühstückstisch liebevoll mit Eiern, Toast und Kaffee gedeckt hatte, setzte der Mann sich ihr gegenüber an den kleinen Tisch und hob die Zeitung vors Gesicht. Hatte der Vorschlag eines gemeinsamen Frühstücks für sie wie eine Einladung geklungen, sich näherzukommen, so errichtete die Zeitung jetzt eine ihrer Ansicht nach (bzw. zur Behinderung ihrer Ansicht) papierdünne, aber nichtsdestotrotz undurchdringliche Mauer zwischen ihnen.
Wenn sie nichts von den geschlechtsspezifischen Unterschieden gewusst hätte, wäre sie einfach gekränkt gewesen und hätte gedacht, wieder mal eine Niete gezogen zu haben. Sie wäre zu dem Schluss gekommen, dass der Mann – nachdem er die Freuden der Nacht genossen hatte – ihre Dienstleistungen weiterhin in Anspruch nahm und sich ihrer jetzt als Schnellimbisswirtin bediente. Stattdessen erkannte sie, dass er, anders als sie, es nicht für nötig hielt, ihre Intimität durch ein Gespräch zu vertiefen. Ihre bloße Anwesenheit genügte ihm, und das hieß nicht, dass er ihre Gesellschaft nicht zu schätzen wusste. Hätte er andererseits verstanden, welch entscheidende Rolle das Gespräch für die weibliche Definition von Intimität spielt, hätte er vom Zeitunglesen absehen können – statt von ihr abzusehen.
Das gemütliche Zuhause
Das Zuhause ist für uns alle ein Ort, wo wir uns gehen lassen können. Aber die häusliche Entspannung kann gegensätzliche und unvereinbare Bedeutungen für Männer und Frauen haben. Für viele Männer bedeutet das gemütliche Zuhause, dass sie davon befreit sind, sich dauernd beweisen und durch sprachliche Darbietungen glänzen zu müssen. Endlich sind sie in einer Situation, wo es nicht nötig ist zu reden. Sie können hemmungslos schweigen. Aber für Frauen ist das Zuhause der Ort, wo sie hemmungslos reden können und wo ihr Gesprächsbedürfnis am größten ist, weil hier die Menschen sind, die ihnen am nächsten stehen. Für sie bedeutet häusliche Entspannung, dass sie endlich frei über alles sprechen können.
Zu dieser Ansicht gelangt die Linguistin Alice Greenwood, die Gespräche zwischen ihren drei voradoleszenten Kindern und deren Freunden untersuchte. Ihre Töchter und ihr Sohn gaben unterschiedliche Gründe dafür an, warum sie bestimmte Gäste vorzogen. Ihre Tochter Stacy sagte, dass sie nicht gern Leute einlade, die sie nicht so gut kenne, weil sie dann »still und höflich« sein und sich gut benehmen müsse. Greenwoods andere Tochter, Denise, meinte, dass sie sich mit ihrer Freundin Meryl am wohlsten fühle; mit Meryl könne man verrückte Sachen anstellen und müsse sich keine Gedanken über seine Manieren machen wie bei bestimmten anderen Freundinnen, die »wahrscheinlich herumwandern und Konversation treiben würden«. Aber für Denises Zwillingsbruder Dennis waren Manieren oder das Urteil anderer Leute über sein Verhalten kein Kriterium. Er sagte einfach, dass er gern Freunde einlade, die Spaß verstehen und viel lachen würden. Die Aussagen der Mädchen zeigen, dass Nähe für sie bedeutet, frei reden zu können. Und das Zusammensein mit relativ fremden Leuten bedeutet, dass sie darauf achten müssen, was sie sagen oder tun. Diese Einsicht enthält einen entscheidenden Hinweis auf die Lösung des Rätsels, wer mehr redet, Männer oder Frauen.
Berichtssprache im privaten Bereich
Die Berichtssprache, oder das, was ich öffentliches Sprechen nenne, ist nicht auf die im wörtlichen Sinn öffentliche Situation eines formalen Vortrages vor Publikum beschränkt. Je mehr Leute an einem Gespräch teilnehmen, je weniger man sie kennt und je größer die Statusunterschiede zwischen ihnen sind, desto mehr gleicht eine Konversation dem öffentlichen Sprechen bzw. der Berichtssprache. Je weniger Leute an einem Gespräch teilnehmen, je besser man sie kennt und je geringer die Statusunterschiede sind, desto mehr hat es den Charakter des privaten Sprechens bzw. der Beziehungssprache. Außerdem empfinden Frauen eine Situation als öffentlicher – in dem Sinn, dass sie auf ihr Benehmen achten müssen –, wenn Männer dabei sind, außer vielleicht im Familienkreis. Doch sogar innerhalb der Familien haben die Mutter und die Kinder oft das Gefühl, dass ihr Zuhause quasi
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