Du lebst nur zweimal
gezogen worden sei. Der kannushi-san, der Priester, meinte, daß du das wissen solltest.« Sie sah ihn ängstlich an. »Todoroki-san, ich habe dich sehr gern. Ich glaube, daß es zwischen dir und dem kannushi-san Geheimnisse gibt, die mit dem Schloß zusammenhängen. Du solltest mir wenigstens soviel erzählen, daß ich keine Angst zu haben brauche.«
Bond lächelte. Er ging auf sie zu, nahm ihr Gesicht in beide Hände und küßte sie auf die Lippen. »Du bist sehr schön, Kissy. Heute fahren wir nicht mit dem Boot hinaus, ich muß mich ausruhen. Führ mich hinauf auf den Hügel, damit ich mir das Schloß ansehen kann. Ich erzähle dir dann soviel über mich, wie ich darf. Ich hätte es sowieso getan, weil ich deine Hilfe brauche. Später würde ich mir dann gern die sechs Wächter anschauen. Sie interessieren mich - als Anthropologe.«
Kissy packte ihr Mittagessen in einen kleinen Korb, zog ihren braunen Kimono an, und sie gingen langsam den schmalen Fußpfad entlang, der hinter dem Dorf in vielen Windungen zum Hügel hinaufführte. Die Zeit der Kamelienblüte war schon fast vorbei, doch hier stießen sie immer wieder auf rot und weiß blühende wilde Kamelien; in besonders üppiger Fülle leuchteten sie um einen kleinen Zwergahornhain, in dem einzelne Bäume schon in flammenden Herbstfarben glühten. Der Hain lag genau über Kissys Haus. Sie führte ihn hinein und zeigte ihm den kleinen Schintoschrein. »Hinter dem Schrein«, erklärte sie, »liegt eine wunderbare Höhle, aber die Leute von Kuro haben Angst hineinzugehen, weil sie voller Geister ist. Ich habe sie einmal untersucht, und wenn es darin Geister gibt, sind es bestimmt freundliche.« Sie klatschte vor dem Schrein in die Hände, senkte einen Augenblick lang den Kopf und klatschte noch einmal in die Hände. Dann stiegen sie wieder hinauf. Ein paar prächtige kupferrote Fasane mit goldenen Schwanzfedern flüchteten kreischend den Abhang hinunter in die Büsche. Bond bat Kissy, in Deckung zu bleiben, während er ganz hinaufstieg, sich hinter den hohen Steinhaufen auf der Spitze des Hügels stellte und vorsichtig hinüber zum Festland spähte.
Er konnte über die hohe Mauer in den Schloßpark hineinsehen. Es war zehn Uhr. Gestalten in blauen Arbeitsanzügen, mit hohen Stiefeln und langen Stangen eilten geschäftig über das Gelände. Ab und zu schienen sie mit ihren Stangen in die Büsche zu stechen. Sie trugen schwarze Gazemasken. Bond überlegte, daß sie vielleicht ihre allmorgendliche Runde machten, um die »Beute« der Nacht aufzustöbern. Was taten sie, wenn sie einen halbblinden Menschen fanden oder einen Kleiderhaufen neben einer der Fumarolen, deren kleine Dampfwolken hier und dort im Park aufstiegen? Zum Doktor bringen? Und was geschah dann mit den Menschen? Und wenn er, Bond, heute nacht über die Mauer kletterte, wo sollte er sich vor den Wächtern verstecken? Wenigstens war das Meer ruhig und der Himmel wolkenlos. Es sah so aus, als sollte er ohne Schwierigkeiten hinübergelangen. Bond ging zu Kissy zurück und setzte sich neben sie auf den spärlichen Rasen.
»Kissy«, begann er, »heute nacht muß ich zum Schloß hinüberschwimmen, die Mauer hinaufsteigen und in den Park eindringen.«
Sie nickte. »Ich weiß. Und dann sollst du den Mann töten und vielleicht auch seine Frau. Du bist der Mann, der - wie wir glauben - über das Meer nach Kuro kommen und das tun soll.« Sie starrte auf das Meer hinaus und sagte niedergeschlagen: »Aber warum hat man dich dafür ausgewählt? Warum nicht
einen anderen, einen Japaner?«
»Diese Leute sind gaijins. Ich bin ein gaijin. Die Regierung wird weniger Unannehmlichkeiten haben, wenn sie das Ganze als Auseinandersetzung zwischen Ausländern hinstellen kann.«
»Ich verstehe. Hat der kannushi-san seine Zustimmung gegeben?«
»Ja.«
»Und wenn . . . Und danach . . . Wirst du wieder kommen und mich rudern?«
»Eine Zeitlang. Aber dann muß ich nach England zurück.«
»Nein. Ich glaube, du wirst sehr lange auf Kuro bleiben.«
»Und warum glaubst du das?«
»Weil ich vor dem Schrein darum gebetet habe. Ich habe noch nie zuvor eine so große Bitte vorgebracht, und ich bin sicher, daß sie mir erfüllt wird.« Sie dachte nach. »Ich werde heute nacht mit dir schwimmen.« Sie hob eine Hand. »Du wirst in der Dunkelheit Gesellschaft brauchen, und ich kenne die Strömungen. Ohne mich würdest du nie hinüberkommen.«
Bond ergriff ihre kleine, trockene Hand und betrachtete die kindlichen, abgebrochenen
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