Du musst die Wahrheit sagen
in meine Klasse.«
»Ist noch Tee da?«, fragte Morgan und nickte Nadja zu.
»Bestimmt«, sagte ich, »aber du musst dir selber welchen kochen.«
»Habt ihr alles Brot aufgegessen?« Seine Stimme klang, als glaubte er, wir wollten sein Bett samt Bettzeug und den Teddy klauen, den er so geliebt hat, als er fünf war.
»Es ist noch ein halbes Brot übrig«, sagte ich.
Er reckte den Kopf, um einen Blick auf den Bildschirm zu werfen.
»Was guckt ihr euch an?«
»Den ›Weißen Hai‹.«
»Scheißfilm«, sagte Morgan. »Guckt lieber mich an!«
Er zeigte mit beiden Händen auf sich. Er sah aus, als hätte er angezogen gebadet. Um seine Füße hatte sich schon eine Pfütze gebildet.
»In den Regen geraten«, sagte ich. »Pech gehabt.«
Er fing meinen Blick auf.
»Willst du nicht laufen?«, fragte er. »Trainingsstrecke.«
Dann sah er Nadja an, als wäre ihm gerade etwas Überraschendes eingefallen.
»Hast du eine Schwester auf dem Gymnasium?«
Nadja schüttelte den Kopf, fast unmerklich.
»Was denn nun?«, fragte Morgen, der Schwierigkeiten hatte, Gebärden zu deuten. »Hast du oder hast du nicht?«
»Nein«, sagte Nadja.
»Du könntest eine haben! Da gibt es in der Zweiten eine, die sieht aus wie du! Genau wie du! Auch mit Brille. Könnte in der Familie liegen. Dass man eine Brille braucht.«
Ein typischer Morgan-Kommentar. Dass es in der Familie liegen könnte, wenn man eine Brille braucht. Ein typischer Morgan-Kommentar!
»Es ist nicht meine Schwester«, sagte Nadja. »Ich habe keine.«
»Sie könnte es aber sein!«, beharrte Morgan. »Und man kann ja nie wissen, ob man nicht irgendwo doch noch einen kleinen Bruder oder eine Schwester hat, oder?«
Dann starrte er mich an und versuchte sich an einem Lächeln, das smart wirken sollte.
»Nicht wahr, Tommilein? Man kann nie wissen.«
Nadja schüttelte den Kopf.
»Ich hab jedenfalls keine Schwester.«
Morgan biss sich auf die Unterlippe, steckte eine Hand in die Jeanshose, zog sie wieder hervor, betrachtete sie und verschwand aus der Türöffnung.
Gleich darauf hörten wir, wie er die Kühlschranktür öffnete.
Als der Hai Chrissie bei der Boje packt, klammerte sich Nadja an meinen Arm. Sie hat lange Fingernägel, und es fühlte sich an, als würden sie bis auf die Knochen durchdringen. Sie schloss die Augen, zog eine Grimasse und drehte das Gesicht weg.
»Es ist nur ein Film«, sagte ich.
Hinterher hatte ich vom Handgelenk bis zum Ellenbogen Kratzer. Als der Nachspann begann, stand sie auf.
»Ich muss jetzt nach Hause. Vielen Dank für den Tee und den Film und alles.«
Sie musterte mich drei Sekunden. Vielleicht wollte sie noch etwas sagen. Stattdessen hob sie Schuhe und Rucksack auf und verschwand.
An der Haustür begegnete sie Mama. Ich konnte nicht verstehen, was sie redeten, wenn sie überhaupt etwas sagten. Gleich darauf kam auch Annie nach Hause.
23
Mama hatte nichts eingekauft. Also stiegen wir ins Auto und fuhren zu der Pizzeria auf der anderen Seeseite.
Die war voll, und wir mussten eine Weile auf einen Tisch warten.
»Kann ich nicht zwei haben?«, fragte Morgan, sobald wir uns gesetzt hatten und der Kellner den Tisch mit einem feuchten Lappen abwischte.
»Du bekommst eine«, sagte Mama.
Morgan sah wie üblich aus, als hätte er Bauchschmerzen, aber seltsamerweise schien er sich damit abzufinden.
»Wie geht’s im Salon?«, fragte Annie.
Mama blies die Backen auf und zuckte mit den Schultern.
»Handwerker«, keuchte sie. »Wenn man einen Nervenzusammenbruch haben will, muss man Handwerker bestellen.«
»Werden sie rechtzeitig fertig?«
Mama zog eine Miene, die vermutlich andeuten sollte, dass das in den Sternen stand. Dann kam der Kellner mit seinem Block.
Mama und Annie bestellten eine vegetarische Pizza und ich eine Vesuvio.
»Mama«, sagte Morgan, »wenn du den Salon mit einer Party einweihst, darf ich dann zu Hause auch eine Party geben?«
Mama sah beleidigt aus.
»Du willst also nicht zur Einweihung kommen?«
Morgan wurde klar, dass er die falsche Karte rausgegeben hatte, und versank wieder in seinem verbissenen Schweigen. Er hat eine Begabung, unglaublich beleidigt auszusehen. Das kann er am allerbesten, beleidigt aussehen. Darin ist er sogar noch besser als im Fußballspielen. Annie verdrehte die Augen, beugte sich über den Tisch und nahm Mamas Hand.
»Ich habe eine Spezialaufgabe bekommen«, sagte sie. »Eine Arbeit über Gesetz und Recht. Meinst du, ich kann Dick interviewen?«
Mama sah gleich
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