Du oder der Rest der Welt
vergehen quälend langsam, während Mr Furie andere Schüler aufruft, damit sie ihre Thesenpapiere vorlesen. Ich gucke immer wieder zur Uhr hoch und bete, dass die Minuten schneller vergehen mögen. Es fällt mir schwer, die Tränen zurückzuhalten, die jeden Augenblick hervorzuquellen drohen.
Sobald das Läuten erklingt, schnappe ich mir meine Bücher und sprinte praktisch aus der Klasse. Mr Furie ruft meinen Namen, aber ich gebe vor, ihn nicht zu hören.
»Kiara!«, sagt Tuck, packt mich am Ellbogen und zwingt mich, ihn anzusehen.
Eine blöde Träne läuft mein Gesicht runter. »Ich will allein sein«, krächze ich, dann renne ich den Flur hinunter.
Am Ende des Ganges sind Stufen, die zu einem leeren Umkleideraum führen, den gegnerische Teams bei Wettkämpfen nutzen. Niemand ist tagsüber hier, und allein der Gedanke, einen Ort zu haben, wo ich allein sein kann und kein falsches Lächeln aufsetzen muss, ist himmlisch. Mir ist klar, dass ich zu spät in die Studierzeit kommen werde, aber Mrs Hadden führt normalerweise keine Anwesenheitsliste, und sollte sie es doch tun, ist es mir egal. Ich möchte nicht, dass alle sehen, was für ein emotionales Wrack ich bin.
Ich stoße die Tür der Umkleide auf und lasse mich auf eine der Bänke sinken. Die ganze Energie, die ich während der Englischstunde gebraucht habe, um nicht in Tränen auszubrechen, verlässt mich plötzlich. Ich wünschte, ich wäre stärker und gäbe nichts auf das, was die Leute denken, aber das tue ich. Ich bin nicht so stark wie Tuck. Ich bin nicht so stark wie Madison.
Ich wünschte, ich wäre zufrieden damit, einfach ich zu sein, Kiara Westford, mit Sprachproblemen und so weiter.
Nach einer Viertelstunde gehe ich zum Waschbecken hinüber und gucke mein Spiegelbild an. Ich sehe aus, als hätte ich geweint. Entweder das, oder ich habe eine sehr starke Erkältung. Ich mache Papiertücher nass und tupfe damit meine Augen ab, damit sie nicht mehr so geschwollen aussehen. Nach ein paar Minuten sehe ich halbwegs okay aus. Niemand wird merken, dass ich gerade geweint habe. Das hoffe ich zumindest.
Die Tür der Umkleide öffnet sich, und ich zucke erschrocken zusammen.
»Jemand hier drin?«, ruft einer der Hausmeister.
»Ja.«
»Du gehst besser in deine Klasse, die Polizei ist hier. Sie führen eine Drogenrazzia durch.«
11
Carlos
In Bio hält uns Shevelenko einen Vortrag über dominante und rezessive Gene. Sie lässt uns viereckige Kästchen malen und weist uns an, die unterschiedlichen Möglichkeiten der Vererbung der Augenfarbe beim Menschen hineinzuschreiben.
»Heute Abend besuchen mich ein paar Kumpel«, sagt Ram, während wir an unseren Kästchen arbeiten. »Hast du Lust vorbeizukommen? «
Obwohl Ram zu den reichen Kids gehört, ist er ziemlich cool. Letzte Woche hat er mir seine Mitschriften der ersten zwei Wochen gegeben, und seine Storys, wie er im Winter Ski fahren war, sind zum Schießen.
»¿ A qué hora? «, frage ich ihn.
»Gegen sechs oder so.« Er reißt ein Stück Papier aus seinem Heft und notiert etwas darauf. »Das ist meine Adresse.«
»Ich habe kein Auto. Ist es weit?«
Er dreht das Papier um und reicht mir den Stift. »Kein Problem. Dann hole ich dich eben ab. Wo wohnst du?«
Während ich Alex’ Adresse aufschreibe, kommt Shevelenko an unseren Tisch. »Hast du die Aufzeichnungen von Ram bekommen, Carlos?«
»Ja.«
»Gut, denn nächste Woche schreiben wir einen Test.« Sie händigt gerade Arbeitsblätter aus, als fünf Töne aus dem Lautsprecher schallen.
Die ganze Klasse scheint auf einmal nach Luft zu schnappen.
»Was war das?«, frage ich.
Ram sieht geschockt aus. »Heilige Scheiße, Mann. Wir haben Einschluss.«
»Was ist Einschluss?«
»Wenn es ein Psycho mit einer Knarre ist, springe ich aus dem Fenster«, sagt ein Schüler namens John. »Ihr auch?«
Ram rollt mit den Augen. »Da ist keiner mit einer Knarre, du Depp. Das wären drei lange Töne und nicht fünf kurze. Es ist ein Drogen-Einschluss. Es kann keine Übung sein, denn davon hätte ich gehört.«
John scheint amüsiert. »Ruf deine Mom an, Ram. Frag sie, ob sie weiß, was hier los ist.«
Drogen-Einschluss? Ich hoffe, Nick Glass hat seine Drogen-Pu-pu-Platte nicht dabei. Ich werfe Madison einen Blick zu, die zu spät zum Unterricht gekommen ist. Sie zieht ihr Handy aus der Tasche und beginnt, versteckt unter dem Tisch, jemandem eine SMS zu schreiben.
»Jetzt beruhigt euch alle«, sagt Shevelenko. »Die meisten von euch haben das
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