Du oder der Rest der Welt
seine Hände über seinem dicken Bauch und lächelt, doch dieses Lächeln täuscht mich nicht. Er ist ein eiskalter Hund, der keine Gefangenen macht. »Irgendwelche Fragen?«, sagt er vollkommen entspannt. Aber ich habe keinen Zweifel daran, dass er Befehle lauter schmettern kann als jeder Armeeausbilder.
Der Professer wirft mir einen Blick zu und erwidert: »Ich glaube, es ist alles klar.«
»Toll. Dann müssen wir nur noch eins erledigen, bevor du wieder zur Schule gehen kannst.« Er schiebt uns ein Blatt zu. »Das ist eine Vereinbarung, die besagt, dass ich dir die REACH-Regeln erläutert habe, du sie verstanden hast und zustimmst, sie zu befolgen.«
Als ich mich vorbeuge, fallen mir drei Balken für Unterschriften ins Auge. Einer für mich, einer für einen Elternteil oder den Vormund und einer für den Mitarbeiter des REACH-Programms. Auf dem Blatt steht:
Ich,————, bestätige mit meiner Unterschrift, dass ich die Regeln des REACH-Programmes befolgen werde, die im REACH-Handbuch festgehalten sind. Ich verstehe die Regeln, die mir von einem REACH-Mitarbeiter erläutert worden sind. Ich bin mir darüber im Klaren, dass mich disziplinarischen Maßnahmen erwarten, zu denen Hausarrest, zusätzliche Beratungsstunden und/oder Ausschluss aus dem REACH-Programm gehören können, falls ich die Regeln aus irgendeinem Grund missachte.
Was es in Wahrheit bedeutet:
Ich,————, lege meine Freiheit in die Hände der REACH-Mitarbeiter. Mit meiner Unterschrift bestätige ich, dass ab sofort andere Menschen über mich bestimmen und ich ein hundsmiserables Leben führen werde, solange ich in Colorado bin.
Ich denke nicht groß darüber nach und kritzle meinen Namen auf das Blatt. Dann schiebe ich es Westford hin, damit er unterschreiben kann. Ich möchte einfach, dass es vorbei ist und ich mit meinem Leben weitermachen kann. Es würde nichts bringen, eine Diskussion vom Zaun zu brechen. Nachdem das Blatt unterschrieben und in meine Akte gelegt worden ist, werden wir rausgescheucht, und ich erhalte den Befehl, mich von Montag bis Freitag keine Minute später als fünfzehn Uhr bei REACH einzufinden. Alles andere wäre ein Verstoß gegen meine Bewährungsauflagen.
Ich schätze, bei so vielen Regeln ist es nur eine Frage der Zeit, bis ich gegen eine verstoße.
20
Kiara
Ich habe Carlos den ganzen Schultag noch nicht gesehen. Jeder hier redet über die Drogenrazzia vom Freitag und fragt sich, was Flatiron Highs neuestem Senior zugestoßen ist. Einen habe ich auf dem Gang sagen hören, Carlos habe das Wochenende im Knast verbracht, weil er die Kaution nicht aufbringen konnte. Ein anderer meinte, er sei abgeschoben worden, weil er ein illegaler Einwanderer gewesen sei. Ich erzähle niemandem, dass Carlos jetzt bei uns wohnt, obwohl ich gut Lust hätte, allen zu sagen, sie sollen gefälligst die Klappe halten und aufhören, miese Gerüchte zu verbreiten.
Beim Mittagessen sitzen Tuck und ich an unserem üblichen Tisch.
»Ich kann am Freitag nicht dein männliches Modell sein«, sagt er.
»Warum nicht?«
»Mein Mom möchte, dass ich ihr mit einer Wandergruppe helfe, die sie am Wochenende hat. Sie haben nicht genug Guides.«
»Die Damen im Seniorenheim werden am Boden zerstört sein«, sage ich traurig. Als ich ihnen erzählt habe, sie bekämen zwei lebende Modelle, waren sie total aus dem Häuschen. Sogar, nachdem ich ihnen gesagt hatte, dass mein Freund Tuck und ich die Modelle sein würden und, nein, wir nicht nackt sondern angezogen sein würden.
»Nimm jemand anderen mit.«
»Wen denn?«
»Ich hab’s!«, ruft er. »Bitte Carlos, dein Partner zu sein.«
Ich schüttle den Kopf. »Kommt nicht infrage. Er ist extrem mies gelaunt, seit er am Freitag geschnappt wurde. Ich glaube nicht, dass er in der Stimmung ist, anderen Menschen einen Gefallen zu tun. Jedes Mal, wenn er mich provoziert, habe ich Panik, dass ich zu stottern anfange.«
Tuck grinst. »Wenn du kein Wort rausbekommst, hast du ja immer noch deinen Finger. Typen wie Carlos sprechen auf Handzeichen gut an.«
Er hat es kaum gesagt, als Carlos die Schulcafeteria betritt. Jeder einzelne Blick im Raum wendet sich ihm zu.
An Carlos’ Stelle hätte ich den Speisesaal für mindestens einen Monat gemieden. Aber Carlos ist nicht wie ich. Man könnte fast meinen, er bemerke die vielen Blicke und das Geflüster über die neuesten Carlos-Gerüchte gar nicht. Er geht schnurstracks auf den Tisch zu, an dem er immer sitzt, ohne sich vor
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