Du oder der Rest der Welt
irgendwem zu rechtfertigen. Ich bewundere sein Selbstvertrauen.
Keiner der anderen Jungs begrüßt Carlos, bis Ram rüberrutscht und Carlos einlädt, sich zu ihm zu setzen. Danach scheint die Freakshow vorbei zu sein. Ram ist beliebt, und wenn Ram Carlos anerkennt, heißt das, mit Drogen erwischt zu werden macht Carlos nicht zu einem Aussätzigen.
Nach dem Essen entdecke ich Carlos an seinem Spind und tippe ihn auf die Schulter. »Danke, dass du die Kombination an meinem Spind wieder geändert hast.«
»Das habe ich nicht getan, um nett zu sein«, erwidert er. »Ich habe es gemacht, weil ich nicht von der Schule fliegen und im Knast landen wollte.«
Als Carlos vor einer Woche hergekommen ist, war es ihm egal, ob er zur Schule gehen durfte oder nicht. Jetzt, wo es tatsächlich sein könnte, dass er von der Schule fliegt, kämpft er darum, bleiben zu dürfen. Ich frage mich, ob der drohende Schulverweis bewirkt hat, dass die Schule ihm mehr bedeutet.
21
Carlos
Mr Kinney, der mir zugewiesene Sozialarbeiter, begrüßt mich in der Eingangshalle von REACH, nachdem ich mich eingetragen habe. In seinem Büro angekommen, legt er ein gelbes Blatt Papier vor mich hin. Mein Name steht oben auf der Seite und darunter sind vier leere Zeilen.
»Was ist das?«, frage ich. Ich habe ihnen mein Leben doch schon überschrieben, was wollen die denn noch?
»Ein Blatt, auf dem du deine Ziele festhältst.«
»Meine was?«
»Deine Ziele.« Kinney gibt mir einen Stift. »Ich möchte, dass du vier Ziele aufschreibst, die du hast. Es muss nicht sofort sein. Denk heute Abend darüber nach und gib den Zettel morgen bei mir ab.«
Ich gebe dem Typen sein Blatt zurück. »Ich habe keine Ziele.«
»Jeder hat Ziele«, widerspricht er mir. »Und falls du keine hast, solltest du dir welche zulegen. Ziele geben deinem Leben eine Richtung und einen Sinn.«
»Falls ich welche habe, werde ich sie bestimmt nicht mit Ihnen teilen.«
»Mit dieser Einstellung wirst du nicht weit kommen«, sagt Kinney.
»Das ist gut, denn ich habe nicht vor, irgendwohin zu gehen.«
»Warum nicht?«
»Ich lebe nur für den Moment, Mann.«
»Bedeutet für den Moment zu leben auch, wegen Drogenbesitzes ins Gefängnis zu gehen?«
Ich schüttle den Kopf. »Nein.«
»Hör zu, Carlos. Jeder Schüler im REACH-Programm ist gefährdet«, sagt Kinney. Ich folge ihm einen klinisch weißen Gang entlang.
»Gefährdet? Wie meinen Sie das?«
»Durch selbstzerstörerisches Verhalten.«
»Warum glauben Sie, dass Sie mich wieder hinkriegen?«
Kinney sieht mich ernst an. »Unser Ziel ist nicht, dich wieder hinzukriegen , Carlos. Wir werden dir das Werkzeug an die Hand geben, das du brauchst, um dein Potential voll auszuschöpfen. Der Rest liegt bei dir. Neunzig Prozent der Schüler in unserem Programm machen ihren Abschluss, ohne einen einzigen Regelverstoß. Darauf sind wir sehr stolz.«
»Sie machen nur ihren Abschluss, weil sie dazu gezwungen werden.«
»Nein. Ob du es glaubst oder nicht, erfolgreich sein zu wollen liegt in der menschlichen Natur. Einige der Jugendlichen hier sind wie du. Sie hatten mit Gangs und Drogen zu tun und brauchen nach der Schule eine geschützte Umgebung. Und manchmal, wenn auch sehr selten, haben Teenager nicht das Rüstzeug, mit dem Stress, ein Teenager zu sein, fertig zu werden. Wir schaffen einen Ort für sie, an dem sie Erfolg haben und ihr volles Potential ausschöpfen können.«
Kein Wunder, dass Alex so heiß darauf war, dass ich herkomme. Er möchte, dass ich mich anpasse. Highschool-Abschluss, College, dann ein respektabler Job, Heirat und Kinder. Aber ich bin nicht er. Ich wünschte, die anderen würden damit aufhören, von mir zu erwarten, dass ich mein Leben nach Alex’ Vorstellungen lebe.
Kinney führt mich in einen Raum mit sechs Witzfiguren, die in einem kuscheligen kleinen Kreis sitzen. Eine Frau mit einem langen, wallenden Rock, die mich an Mrs Westford erinnert, sitzt bei ihnen. In ihrem Schoß liegt ein Notizbuch.
»Ist das hier so ’ne Art Gruppentherapie?«, frage ich Kinney leise.
»Mrs Berger, das ist Carlos«, sagt Kinney. »Er ist seit heute Morgen bei uns.«
Berger setzt dasselbe Lächeln auf wie vorhin Morrisey. »Nimm Platz, Carlos«, sagt sie. »Während der Gruppentherapie kannst du über alles reden, das dir durch den Kopf geht. Bitte, setz dich.«
Hurra! Gruppentherapie! Ich kann es kaum erwarten!
Ich kotz gleich. Ernsthaft.
Nachdem Kinney gegangen ist, bittet Berger alle, sich mir
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