Du sollst nicht lieben: Roman (German Edition)
überlegen. Keine Bildung, feine Garderobe oder Oper der Welt konnte verhindern, dass die Gewalttätigkeit, die in den meisten Menschen auf der Lauer lag, mit tödlicher Wucht explodierte, wenn die Umstände entsprechend waren. Jenny wusste nicht, was hier im Westen Londons vorgefallen war, doch sie würde nicht überrascht sein, wenn sich herausstellte, dass es mit den Geschehnissen im Haus Hayersleigh zusammenhing.
»Und dann haben wir noch das.« Martin grinste, als er Fotos von der Toten aus einem Hefter nahm. »Eine Kette.« Er schaute die Fotos durch. »Die Leute von der Spurensicherung haben sie eingetütet, beschriftet und mitgenommen. Die Mutter kennt sie nicht. Hier.«
Jenny hörte Sondra zufrieden schnalzen.
»Würdest du dir das bitte mal ansehen?«, sagte Sondra und hielt Jenny das Foto unter die Nase.
Es war ein dünnes Kettchen, in das vorn in der Mitte ein Name eingearbeitet war. Die einzelnen Buchstaben waren durch feine silberne Glieder miteinander verbunden. Sie ergaben »Nicky«.
»Das gehört wohl kaum einer Debra«, sagte Martin launig. »Was für eine Dummheit, so was an einem Mord-Tatort zurückzulassen!«
Jenny schwieg. In den Jahren, die sie sich nun schon mit der Aufklärung von Morden befasste, hatte sie gelernt, dass der am offensichtlichsten Verdächtige in der Regel auch der Täter war, der augenfälligste Beweis der stichhaltigste. Am Ende war es nicht so verwunderlich, dass die Täterin ihre Kette in der zusammengekrallten Hand der Toten zurückgelassen hatte. Es war banal, dumm und eine Tatsache. Sie starrte auf das Foto. Nicky Ayers war nicht dumm, aber sie hatte eindeutig den Boden unter den Füßen verloren. Das Kettchen hätte zu einem Teenie gepasst oder einer Frau wie Kate Moss. Auch Nicky konnte sie sich mühelos damit vorstellen. An ihr selbst hätte so ein Ding so viel gesagt wie: Alte Kuh macht auf jung. Diese Nicky dagegen konnte es tragen, ohne sich lächerlich zu machen. Jenny sah sie direkt vor sich, in einem Nachtclub – warum nicht? –, in Klamotten, mit denen sie unter lauter Teenagern überhaupt nicht auffiel. Hatte sie Struan Clarke und Louise Bell dort kennengelernt?
»Wem gehört die Wohnung?«, fragte Sondra.
»Louise, zur Miete. Sie hat seit drei Jahren hier gewohnt und steht als Hauptmieterin im Vertrag. Sie war Hebamme.« Martin rieb sich die verbrannte Nase, die sich bereits pellte. »Louise Bell ist zwar nicht euer Fall, aber wo ihr nun schon den weiten Weg gemacht habt, könntet ihr doch auch bleiben und euch anhören, was Nicky Ayers zu sagen hat. Vielleicht ist das ganz aufschlussreich.«
38
G reg war noch ziemlich benebelt von dem Whiskey und den Pillen, die er sich eingeworfen hatte, um den Flug zu überstehen. Es fiel ihm nicht leicht, den Schlüssel ins Schloss zu bekommen. Lange musste er sich nicht abmühen, Nicky kam ihm zuvor. Sie riss die Tür auf und schrie auf ihn ein, bevor er auch nur den Teleskopgriff seiner Reisetasche eingefahren hatte.
»Wer ist Francesca? Wer ist das, Greg?«
Er stützte sich an der Wand ab, während er versuchte, den Schrecken zu verarbeiten, den es ihm einjagte, aus dem Mund seiner Frau diesen Namen zu hören.
»Na los, erzähl’s mir, Greg!«
Sie war völlig außer sich, starrte ihn herausfordernd an, gestikulierte wild.
Diese Ankunft verlief dermaßen anders, als er sie sich während der endlosen einsamen Stunden der Heimreise ausgemalt hatte! Er hatte sich vorgestellt, wie sie einander an der Tür – genau, da, wo sie ihn gerade anbrüllte – in die Arme sanken, wie sie mit einer Flasche Wein nach oben gingen, wie er die verschwitzten Reiseklamotten auszog und sie ins Bett gingen, obwohl es erst früher Nachmittag war, wie er sich an sie schmiegte und sich langsam wieder erdete – diesmal also nicht.
Sie ließ nicht locker. »Francesca. Sie war deine Freundin, stimmt’s?«
Greg, der unter dem scharfen Verhör schnell nüchtern wurde, nickte. »Ja.«
»Sie war schwanger, stimmt’s?«
Sein Herzschlag verfiel in den stampfenden Rhythmus äußerster Wachsamkeit. Er hoffte nur, es gab einen guten Grund dafür, dass das alles herausgekommen war. Es muss heiß gewesen sein, dachte er, denn sie war ziemlich verbrannt, was untypisch war für sie. Und sie sah anders aus, wenn er auch nicht genauer hätte sagen können, wie. Sie erschien ihm wilder, irgendwie stärker.
»Hast du dazu nichts zu sagen? Ist dir diese Information nicht wenigstens einen kurzen Kommentar wert?« Nicky machte einen
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