Du sollst nicht lieben: Roman (German Edition)
Schritt auf ihn zu und richtete einen ausgestreckten Zeigefinger auf ihn. »Warum hast du mir das nie erzählt? Warum hast du es Grace nie erzählt?«
Greg war groß und kräftig und konnte Leute allein mit seiner physischen Präsenz einschüchtern, aber er ging Streitigkeiten lieber aus dem Weg und setzte seine Kräfte nur äußerst selten für niedere Zwecke ein. Jetzt schob er sich an Nicky vorbei und ging in die Küche, um sich Raum zum Nachdenken zu verschaffen.
»Habe ich dich jemals angelogen? Auch nur ein Mal?«
»Etwas komplett unter den Tisch fallen zu lassen ist genauso schlimm!« Sie blieb ihm auf den Fersen, auch als er sich in den hinteren Teil des Hauses zurückzog.
»Unsinn. Ich habe nie gelogen!«
»Aber du hast etwas vor mir verheimlicht! Du hättest es mir nie erzählt!«
»Nein.«
»Deine Freundin ist gestorben!«
»Ja.«
»Warum hast du mir das nie erzählt, nie mit mir darüber geredet …«
»So ein Unsinn! Reden! Damit versuchen Leute, dich einzuwickeln und an dein Geld zu kommen – und das nennen sie dann Therapie! Ich musste das vergessen, sonst wäre ich verrückt geworden. Immer nach vorn schauen, immer weitermachen – so gehe ich damit um, Nicky. Ich bleibe nicht stehen, ich denke nicht so viel nach über das Was-wäre-wenn. Nichts würde mir mehr zu schaffen machen als der Gedanke, dass ich sie, wenn ich etwas anders gemacht hätte, wenn ich schlauer gewesen wäre, hätte retten können! Also sieh es mir bitte nach, wenn ich nicht Blumen an ein Grab trage oder in meinem Garten einen Gedenkstein für die Toten errichte! Ich gehe auf meine Weise damit um.«
Er spürte, wie er rot anlief, wie er immer wütender wurde. Er fuhr herum und starrte sie an.
»Hör auf mit dem Mist, Nicky. Und jetzt stelle ich dir auch eine Frage: Hast du mich jemals angelogen? Na? Hast du? Gibt’s irgendwas, das du beichten möchtest?«
Statt darauf zu antworten, ging sie erneut zum Angriff über.
»Warum war Liz so wütend, nachdem sie sich mir gegenüber verplappert hatte? Warum ist das so geheim?«
»Es ist nicht geheim!«
»Sie hat sich aber so benommen …«
»Liz ist nun mal Liz, mein Gott. Eine Nervensäge im günstigsten Fall – und jetzt wird mir ihretwegen die Hölle heißgemacht? Woher soll ich wissen, warum sie was wie sagt? Vielleicht ähnelt sie mir ein bisschen und wollte dich davor bewahren.«
»Bewahren vor
was?
«
»Vor Schmerz und Trauer! Erzähl mir nicht, dass du das verstehst, Nicky. Erzähl mir nicht, dass du weißt, wie es mir geht …«
»Das habe ich nie behauptet!«
»Hättest du das getan, wäre ich nicht mit dir zusammen! Die Leute denken immer, Trauer müsse genau so aussehen, wie sie es aus Filmen kennen. Wenn du dich nicht auf eine bestimmte Weise verhältst, fühlen sie sich betrogen – weinst du nicht, denken sie, du empfindest nichts, weinst du zu viel, sagen sie, du sollst dich zusammenreißen. Du weißt nicht, was ich durchgemacht habe, du wirst es nie wissen! Und vergiss nicht, ich musste mich mit diesen Scheißdetectives an einen Tisch setzen, musste ertragen, dass sie jede meiner Regungen genau beobachteten, weil sie dachten, sie könnten mich bei einem Fehler ertappen, es könnte sich irgendwo eine Lücke auftun. Und deine reizenden Kollegen haben mir die Bude eingerannt, haben mich regelrecht belagert, meine Freunde angerufen, irgendwelchen Müll unterstellt …«
»Du hast kein Monopol aufs Leiden! Grace war meine beste Freundin! Ich habe sie von klein auf gekannt!«
Das brachte Greg zum Schweigen. Er fing an zu gähnen und rieb sich die müden Augen.
»Ich weiß … ich weiß. Entschuldige.«
»Wie ist Francesca gestorben?«
Greg holte tief Luft und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. Er stand neben den Glasschiebetüren, die zu ihrem Garten hinausgingen. Es war einer von jenen Londoner Gärten, von denen die meisten nur träumen konnten: groß, langgestreckt. Im hinteren Teil schirmten alte Bäume sie gegen die Nachbarn ab, die ohnehin nie da waren. Ein verschwiegener Ort, an dem Kinder hätten spielen sollen. Ein Garten, in dem sein ungeborenes Kind seinen Spaß gehabt hätte.
»Sie ist von einem Balkon im sechsten Stock gestürzt. In Marokko. Wir haben dort Urlaub gemacht.« Sein Ton war sachlich, beinahe kühl. »Ich wollte ihr was aus der Apotheke holen, weil ihre Mückenstiche so gejuckt haben. Sie hat ständig daran herumgekratzt, und ich hatte Angst, dass sich da was entzündet. Sie haben sie nackt im Gras gefunden.
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