Du sollst nicht schlafen: Thriller (German Edition)
vier Wochen angelegt«, sagte er. »Ursprünglich sollten wir das Medikament jeden Morgen um sieben einnehmen. Damit sollten wir bis um elf Uhr abends wachbleiben können, hieß es. Also schluckten wir unsere erste Dosis und schlurften durch die Krankenhausflure – nichts als ein Haufen extremer Narkoleptiker, die hofften, mal einen ganzen Tag lang nicht bewusstlos zu Boden zu gehen. Es wurde Mittag. Jeder von uns war nach wie vor wach. Dann wurde es Abend. Gegen zwanzig Uhr waren wir alle ganz aufgeregt. Ebenso die Ärzte. Wir hatten fast einen ganzen Tag ohne eine einzige Schlafattacke hinter uns. So lange war noch keiner von uns symptomfrei gewesen.«
Der Salzstreuer rollte zwischen seinen Fingern hin und her. Cynthia sah zu, wie er sich drehte. Hin und her. Hin und her. »Gegen zehn Uhr abends kriegten sich die Forscher vor lauter Aufregung kaum noch ein, und wir auch nicht. Dann wurde es elf, Zeit zum Schlafengehen. Aber keiner von uns war müde. Da wirkten die Ärzte langsam ein bisschen besorgt. Wir mussten ins Bett gehen und wurden anMonitore angeschlossen, die unsere Gehirnwellen im Schlaf kontrollieren sollten.« Marcus lächelte. Er verzog nicht nur kurz den Mund so wie sonst, sondern strahlte übers ganze Gesicht. »Nur schlief keiner. Am nächsten Morgen waren wir immer noch hellwach. Die Wissenschaftler machten dann eine ganze Reihe kognitiver Tests und Denkaufgaben mit uns, um zu sehen, wie sich die Nacht ohne Schlaf auf unser Denk- und Handlungsvermögen ausgewirkt hatte. Aber sie blieb folgenlos. Es gab jede Menge hastig einberufener Besprechungen und wildes Getuschel. Dann trommelten uns die Forscher zusammen und sagten, dass wir an diesem Morgen keine weitere Dosis bekommen würden. Sie wollten warten, bis die Wirkung der ersten Pille abgeklungen war, um herauszufinden, wie lange sie anhielt. Also warteten wir. Ein weiterer Tag und eine weitere Nacht vergingen. Keiner von uns hat auch nur gegähnt.«
Cynthia beugte sich vor. Seine Erzählung hatte sie gepackt. »Aber hat sich keiner von euch … Gedanken gemacht? Und sei es nur, weil das Medikament noch in der Testphase war und die Studie nicht nach Plan lief?«
Marcus zuckte nur leicht die Achseln und stellte endlich den Salzstreuer weg. »Du kannst vermutlich nicht verstehen, wie befreiend diese Erfahrung für jemanden wie mich gewesen ist. Sich keine Sorgen mehr machen zu müssen, mitten im Satz vom Schlaf überfallen zu werden – für mich war das so, als wäre ich soeben aus dem Gefängnis entlassen worden.« Es wurde laut, als eine größere Gruppe am Nebentisch Platz nahm. Cynthia zuckte leicht zusammen, als eine Männerstimme direkt hinter ihr brüllte: »Her mit den Drinks!« Sie sah zu Marcus hinüber und befürchtete, die Unterbrechung könnte ihn aus seiner Geschichte reißen. Aber er schien seine Umgebung gar nicht wahrzunehmen.
»Am fünften Tag merkten wir, dass andere Leute auf die Station kamen. Sie trugen Laborkittel und versuchten, sichunters Personal zu mischen, aber wir sahen sofort, dass das keine Ärzte waren. Man sagte uns, sie kämen von der Qualitätssicherung und sollten die Studie überwachen. Sie schauten bei unseren täglichen Tests zu und stellten dem Personal jede Menge Fragen.«
»Aha«, sagte Cynthia. »Das Verteidigungsministerium?«
»Genau. Eine ziemlich misslungene Undercoveraktion, wenn es denn eine sein sollte. Wir mussten nach wie vor jeden Abend brav ins Bett gehen, das Licht wurde gelöscht und wir wurden an die Maschinen angeschlossen. Aus irgendeinem Grund führte das dazu, dass die Labortechniker unaufmerksam wurden – als hätten sie vergessen, dass wir gar nicht schliefen. Der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier. Sie redeten ziemlich laut über alles, was da vorging, erzählten sich Gerüchte. Und so fand ich heraus, dass das Verteidigungsministerium eine eigene Studie plante, und zwar mit Menschen mit einem normalen Schlafrhythmus.«
Er nahm einen großen Schluck von seinem Gin Tonic, wie um sich Mut zu machen. »Nach etwa einer Woche fingen wir wieder an zu schlafen. Nachdem wir so lange wach gewesen waren, war das irgendwie … schrecklich. Wie eine todesähnliche Leere. Die Forscher verabreichten uns noch eine Dosis und warteten wieder, bis die Wirkung nachließ, bevor wir die nächste nehmen durften. Vier Pillen in vier Wochen. Ich glaube, sie wollten herausfinden, ob wir eine Art Immunität dagegen entwickelten und die Abstände, bis wir wieder einschliefen, kürzer würden. Aber die
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