Du sollst nicht schlafen: Thriller (German Edition)
genau das tue ich jetzt.« Sie strahlte. Cynthia versuchte, sich daran zu erinnern, wann sie ihre Freundin zuletzt so entspannt gesehen hatte. Das musste lange vor dem Jurastudium gewesen sein. »Schau mich doch an!«, fuhr Judy fort. »Ich lerne eine Fremdsprache, statt krampfhaft zu versuchen, über einem Stapel Gerichtsakten wach zu bleiben. Und dienstags mache ich einen Fotokurs. Bevor ich Shifter wurde, gab es nichts als Arbeit und Erschöpfung in meinem Leben. Jetzt fühle ich mich wieder wie ein richtiger Mensch mit Hobbys, Interessen und Freunden.« Sie warf ihr Haar gespielt theatralisch zurück, bevor sie hinzufügte: »Ich habe sogar jemanden kennengelernt.«
»Echt?«, sagte Cynthia und beugte sich in einer pubertären Anwandlung wie elektrisiert vor. »Wo denn?« Sie hielt inne und schüttelte den Kopf. Das Thema Männer konnte warten. Sie würde sich jetzt nicht ablenken lassen. »Wie schaffst du das alles? Du warst früher fast immer bis um neun im Büro – oft sogar noch länger. Schlaf hin oder her – woher nimmst du auf einmal die Zeit für Abendkurse? Da musst du doch dein Arbeitspensum ziemlich zurückgeschraubt haben.«
Judy schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil. Ich arbeite mehr denn je. Wie gesagt, in wenigen Stunden gehe ich insBüro zurück und bleibe vermutlich da, bis die Sonne aufgeht. Dann mache ich einen schönen Spaziergang und gönne mir ein ausgiebiges Frühstück vor der Morgenbesprechung. Jetzt, wo ich nicht mehr müde werde, macht es mir nichts aus, nachts zu arbeiten. Außerdem bin ich wesentlich produktiver, weil die Dauererschöpfung von früher wegfällt. Ich bin konzentrierter, schaffe mehr und mache weniger Fehler.«
Cynthia nippte an ihrem Tee. Es war schwer, Judys Argumenten etwas entgegenzusetzen. Sie dachte an die 24/7-Kapsel im Innenfach ihrer Handtasche. Wäre sie zur selben Zeit wie Damien Shifter geworden, wäre sie nicht bei der Arbeit eingeschlafen und hätte ihre Beförderung nicht vermasselt. Auch um ihre Beziehung wäre es besser bestellt. Damien und sie würden nachts zusammen ausgehen. Richtig zusammengehören.
Judys Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Und, willst du gar nichts über meinen neuen Typen wissen?«
»Doch, natürlich! Also, sag schon … Wer ist es, wo hast du ihn kennengelernt, und wie ist er so?«
»Er ist ziemlich süß und heißt Grant. Er ist Anwalt wie ich: groß, witzig und smart.«
»Hast du ihn über die Arbeit kennengelernt?«
»Nein.« Judy schüttelte den Kopf. »Auf einem Abend, der von ShiftersUnited veranstaltet wurde.«
Cynthia stöhnte innerlich. Diese verdammte Website! Schlimm genug, dass Dan Limin Damien in seine Cyberspace-Welt gelockt hatte. Musste es jetzt auch noch ihre Freundin sein? Sie starrte durch das große Fenster auf den lebhaften Verkehr und das Fußgängergewimmel. War vor einem halben Jahr unter der Woche auch schon so viel los gewesen?
Sie wandte sich wieder Judy zu und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich nehme an, dein Freund ist auch Shifter?«
»Aber sicher.«
Und obwohl Cynthia nicht genau sagen konnte, woran es lag, klang Judy irgendwie fremd, als sie das sagte – gar nicht wie Cynthias alte Freundin.
21
Das Kanalboot wirkte so leer, wenn Katrina nicht da war. Alles wirkte leer. Ich war jetzt mehr als einen Monat arbeitslos. Es kam mir so vor, als ob ich die ganze Zeit nur dasaß, auf die Uhr starrte und darauf wartete, dass meine Frau nach Hause kam. Dass sie bis spätabends arbeitete, machte es auch nicht gerade leichter.
Ich lief in der Küche auf und ab, horchte, ob ihre Schritte zu hören waren. Aber da war nichts als Stille. Ich versuchte es immer wieder auf ihrem Handy, aber es ging jedes Mal gleich der Anrufbeantworter dran. Ich sah aus dem kleinen Fenster über dem eingebauten Sofa in der Hoffnung, dass sie bald auftauchte. Aber da draußen war nichts, nur der dunkle Treidelpfad und die Baumreihe dahinter. Ich kniete auf den Sofakissen, starrte raus und wartete. Eine Ewigkeit verging. Ein Mann schob sein Fahrrad am Fenster vorbei, mehr passierte nicht. Ich sah auf die Uhr. Halb zehn. Sie war über anderthalb Stunden zu spät. Wo steckte sie bloß?
Die Stille veränderte sich und wurde zu einem eigenen Geräusch, einem unangenehmen Zischen wie von einem stumm gestellten Fernseher. Ich sprang vom Sofa auf und lief wieder auf und ab. Die Lampe über der Spüle schien plötzlich greller zu werden und blendete mich. Ich sah wieder auf die Uhr. 9.41 Uhr. Die Nacht drängte gegen das
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