Du stirbst zuerst
zwischen ihnen sind größer. Der Betreffende hat längere Beine und macht weitere Schritte. Die Schuhe klicken auf dem Boden, als ticke eine Uhr.
Ich benutze mehr Seife als die anderen Patienten und schrubbe mir Haare und Haut besonders kräftig, um die Kälte des Wassers zu vertreiben. Das warme Wasser wage ich nicht aufzudrehen, und ich dusche nie, wenn schon jemand dort drinnen ist. Sie können kontrollieren, welche Düsen mit dem Zyankali verbunden werden, genau wie sie bestimmen, welche Geräte mich überwachen.
Ich warte im Gemeinschaftsraum auf Lucy, beobachte die Patienten, Pfleger und Ärzte und frage mich, wer sie wirklich sind. Sie laufen umher, steife Knochen, biegsame Gelenke und feste Körper, die sie gegen die Welt abschirmen. Ich bin von Wasser und Fleisch umgeben, von totem Haar und langsamen, schlurfenden Schritten. Eine Fliese, die nächste Fliese, noch eine Fliese. Ich höre sie reden und verstehe die Worte nicht. Worte verlieren die Bedeutung. Ich frage mich, wie diese Geschöpfe überhaupt kommunizieren können.
Dann bin ich wieder völlig wach und wundere mich, dass ich mir solche Sorgen gemacht habe.
Seit Lucys letztem Besuch sind fast drei Wochen vergangen. Da ich sie so lange nicht mehr gesehen habe, befürchte ich, die anderen könnten sie geschnappt haben. Ich muss sie finden. Sobald ich den Zahlencode für die Pforte habe, werde ich fliehen.
Im Essensbereich stelle ich den Stuhl immer so auf, dass ich die Pforte genau beobachten kann, bin jedoch zu weit entfernt. Ich habe recht gute Augen, nur auf diese Entfernung verschwimmt alles, und ich kann die Ziffern nicht voneinander unterscheiden. Also muss ich näher heran. Ich könnte zum Stationszimmer gehen und mit der Schwester plaudern, bis jemand kommt und die Tastatur bedient, aber das ist nicht möglich. Sie sitzt dort am Computer. Ich spüre ihn als Summen im Kopf, das sich förmlich in mich hineinfrisst und die Kontrolle übernehmen will. Ich winke der Schwester zu und kehre in den Gemeinschaftsraum zurück.
Schließlich verschafft mir der Fernseher die Gelegenheit. Manchmal ist das Leben eine große Ironie. Jeden Morgen um 10.30 Uhr hält Dr. Linda in der Fernsehecke eine Gruppentherapiesitzung ab. Dort stehen die bequemen Sofas, und in dieser Zeit wird der Fernseher ausgeschaltet. Außerdem ist die Gruppe so groß, dass einige Teilnehmer halb im Flur sitzen müssen. Ich sehe von den Esstischen aus zu und schätze die Entfernung ab. Wenn ich mir einen Stuhl nehme und mich an die richtige Stelle setze, habe ich aus ein paar Metern Entfernung die Tastatur im Blick. Ich stehe auf und gehe mit dem Stuhl hinüber.
»Hallo, Michael«, sagt Linda. »Schön, dass Sie uns heute Morgen Gesellschaft leisten.«
Ich setze mich. »Hallo.«
»In dieser Therapiegruppe geht es um das Sozialverhalten, Michael. Heute reden wir über Jobs und Verantwortung.«
»Ich hatte einen Job«, meldet sich Steve. »Ich habe in einem Buchladen gearbeitet und war ein guter Verkäufer.«
»Das klingt großartig«, lobt Linda ihn. »Erzählen Sie uns etwas darüber.«
Ich melde mich innerlich ab, während Steve darüber redet, wie wichtig er mal war, und beobachte aus den Augenwinkeln den Flur. Die Tastatur erkenne ich deutlich. Es muss nur noch jemand kommen, der sie bedient.
»Krimis konnte ich praktisch jedem verkaufen«, berichtet Steve. »Ganz egal, was sie eigentlich kaufen wollten, ich konnte jedem einen Krimi andrehen.«
»Woran mag das Ihrer Meinung nach gelegen haben?«
»Die Leute wollen immer wissen, wie es endet.«
Devon geht an mir vorbei zum Stationszimmer, bleibt stehen und redet mit der Frau am Computer. Nun tritt schon durch die Pforte! Er sagt etwas, aber so leise, dass ich es nicht verstehe. Sie lacht. Ich beuge den Arm: auf und ab, auf und ab, auf und ab.
»Für welche Bereiche waren Sie im Buchladen verantwortlich, Steve?«, fragt Linda.
»Ich habe alles gemacht«, erklärt er. »Das war auch nötig, weil sich sonst niemand gekümmert hat.«
»Haben Sie auch bei der Eröffnung des Geschäfts geholfen?«
»Nein, das hat der Manager getan, bevor ich dort anfing.«
Die Schwester am Computer antwortet irgendetwas, und jetzt lacht Devon. Er winkt ihr zum Abschied und tritt vor die Pforte. Sechs-acht-fünf. Dann kommt ein anderer Pfleger dazu und versperrt mir die Sicht.
»Michael?«
Mit rasendem Herzen wende ich mich um. Linda und die Mitpatienten sehen mich an. Wissen sie, was ich beobachtet habe? Wissen Sie, was ich
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