Du stirbst zuerst
Sie? Ich bin …« Mir werden die Augen feucht, ich wische sie mit dem Handrücken trocken. »Ich bin doch so etwas wie ein Monster. Ich kann hier nichts tun, niemanden treffen, nirgendwo hingehen … ich komme mir vor wie im Zoo.«
»Ruhig, Michael.« Sie drückt mein Handgelenk. Ich fühle mich dumm und schwach. »Ich weiß, wie schwer es ist, wenn man hier lebt«, sagt sie. »Aber Sie haben ja uns. Wir sind Ihre Freunde.« Sie lächelt, und ich versuche, nicht vor dem Licht des Stifts zurückzuzucken. »Mögen Sie Pfirsiche?«
»Pfirsiche?«
Warm und fröhlich lacht sie in der Dunkelheit. »Ich mag Pfirsiche. Meine Eltern hatten einen Obstgarten, und meine Mutter hat sie jedes Jahr eingekocht. Pfirsiche stimmen mich froh. Es ist nichts Besonderes, aber wenn Sie zum Frühstück Pfirsiche mögen, notiere ich es auf Ihrer Karte. Vielleicht schickt die Küche morgen früh welche hoch. Damit … damit Sie sich etwas mehr wie ein Mensch fühlen. Verstehen Sie?«
Ich bin verlegen wie ein kleiner Junge, aber es ist ein nettes Angebot. Ich nicke. »Das wäre schön. Ich mag Pfirsiche.«
»Wundervoll.« Im Dunkeln kann ich sie nicht erkennen, stelle mir aber vor, dass sie lächelt. Ich lächle zurück.
Am nächsten Morgen bekomme ich Pfirsiche zur Hafergrütze, aber sie schmecken falsch. Süß und trotzdem substanzlos. Ich kann es nicht genau beschreiben. Außerdem geben sie mir eine zusätzliche Tablette. Sie haben die Dosis verdoppelt. Das deprimiert mich, als hätte ich alles kaputtgemacht. Der Gemeinschaftsraum summt vor Gesprächen, aber soweit ich weiß, reden die meisten Patienten mit sich selbst. Wer von ihnen ist mein geheimer Verbündeter? Unauffällig lasse ich den Blick über die Tische schweifen, doch auf diese Weise kann ich ihn natürlich nicht entdecken.
»Michael.«
Überrascht fahre ich auf. Doktor Vanek setzt sich neben mir auf einen Stuhl. »Sie waren tief in Gedanken versunken und haben mich gar nicht bemerkt.«
»Entschuldigung«, sage ich. »Ich … ich habe nachgedacht.«
»Deshalb sagte ich ja, dass Sie tief in Gedanken versunken waren.«
An unserem Tisch sitzt noch ein Patient, ein kleiner Mann mit riesigen Augen und wuscheligem Haar. Vanek verscheucht ihn. »Ich hasse diese Kliniken.«
»Was Sie nicht sagen«, gebe ich zurück. »Wie sind Sie überhaupt Psychiater geworden?«
»Nennen Sie es eine Überlebensstrategie.«
»Sie hassen auch alle, die hier drinnen sind.«
»Außerdem hasse ich alle, die draußen sind. Deshalb ist die Psychiatrie nicht schlimmer als alles andere.«
»Wie schön.« Ich esse weiter. »Warum sind Sie überhaupt hier?«
»Ihre Psychosen. Je mehr ich darüber erfahre, desto stärker faszinieren sie mich.«
Ich nicke und schnalze mit der Zunge. »Freut mich, dass Sie mich so unterhaltsam finden.«
»Sagen Sie mal, Michael, gibt es eine bestimmte Erinnerung an ein Telefon, die Sie besonders schrecklich finden?«
»Was?«
»Telefone«, wiederholt er. »Sie haben Angst vor ihnen, und ich möchte den Grund wissen. Viele schizophrene Wahnvorstellungen beruhen auf konkreten Ereignissen im Leben des Patienten. Vielleicht sehen Sie die Gesichtslosen, weil Sie in der Kindheit von einem Mann mit einem verhüllten Gesicht misshandelt wurden.«
»Ich wurde nicht misshandelt«, widerspreche ich rasch.
»O doch«, widerspricht er. »Zumindest emotional, und zwar von dieser Katastrophe, die Sie Ihren Vater nennen. Es könnte sein, dass Ihre Wahnvorstellungen von gesichtslosen Männern irgendwie mit ihm zu tun haben.«
»Mein Vater hat ein Gesicht.«
»Ich sehe schon, Sie missverstehen prinzipiell alles, was ich zu sagen versuche«, antwortet er. »Dann lassen wir das Allgemeine bleiben und kehren zum Konkreten zurück. Warum haben Sie Angst vor Telefonen? Betrifft dies alle Handys? Sind es die Geräte selbst, oder geht es um deren Benutzung? Ist es ein bestimmter Klingelton, der irgendeine verborgene Bedeutung für Sie hat?«
»Sie kennen den Grund.«
»Ja, das schon«, sagt er. »Allerdings bezieht sich Ihre Erklärung auf alle elektrischen und elektronischen Geräte. Ihr Ausbruch vor ein paar Wochen, als Sie Devon angegriffen haben, war jedoch an ein bestimmtes Gerät geknüpft. Sie haben nicht auf das Uhrenradio in Ihrem Zimmer reagiert, aber vor dem Handy hatten Sie ungeheure Angst.«
»Warten Sie mal«, sage ich und lege mit gerunzelter Stirn die Gabel weg. »War ein Handy in meinem Zimmer?«
»Aber natürlich. Was glauben Sie denn, was da auf einmal
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