Du stirbst zuerst
schockierende Wahrheit. Der Mann hat kein Gesicht. Wenn ich den Kopf bewege, entsteht der Eindruck, die Luft fließe ihm in Wellen über das Gesicht. Mit angehaltenem Atem berühre ich ihn, immer noch überzeugt, er könne jederzeit aufspringen und mich packen. Er bleibt reglos liegen. Ich strecke die Hand weiter aus, gleichermaßen fasziniert und entsetzt von der verschwommenen leeren Fläche. Ich will ihn unbedingt berühren. Kurz davor beginnen die Finger zu summen, und ich reiße überrascht die Hand zurück. Es sind die gleichen elektrischen Impulse, die ich in der Nähe eines Radios oder Fernsehers spüre. Wieder strecke ich die Hand aus und taste in der Luft umher, um mich zu vergewissern. Da ist es wieder. Dieses Gefühl kenne ich, solange ich lebe.
Medikamente hin oder her, ich habe entsetzliche Angst.
Die Gesichtslosen sind real. Der Puls pocht in Brust und Armen, und mir wird heiß. Der Mann ist real. Ich taumle weg, setze mich auf den Boden und berge den Kopf zwischen den Knien. In den letzten zwölf Stunden habe ich hundert Milligramm Clozapin bekommen, seit Wochen hatte ich keine Halluzinationen mehr und habe nichts Seltsames gesehen, gehört und gerochen. Mein ganzes Leben ist darauf ausgerichtet, alle nur denkbaren psychotischen Elemente auszulöschen. Ich kann nichts Irreales mehr wahrnehmen, weil es physisch und medizinisch unmöglich ist.
Doch da liegt er. Ein Gesichtsloser.
Ich ziehe mich noch weiter zurück, nur weg von dem Schrecken im Dunkeln. Er kannte meinen Namen und wollte mich angreifen. Warum? Warum ist er hier?
Der Grund für seine Anwesenheit ist unwichtig. Er ist da, und das bedeutet, dass es noch mehr von seinesgleichen gibt. Dies wiederum bedeutet, dass ich von hier wegkommen muss, und zwar sofort. Ich stehe auf, bücke mich und mache mich bereit, sofort wegzurennen. Aber wohin? Eigentlich sollte ich in der Klinik sicher sein. Hier gibt es Menschen, die mich bewachen und beschützen. Ich schüttle den Kopf. Sie bewachen mich zwar, aber ob sie mich auch beschützen? Keine Ahnung.
Die Welt scheint sich wie wild um mich zu drehen. Ich muss mich an einem Tisch festhalten. Der Tote ist real, ein echter Gesichtsloser. Heißt dies nun, dass auch anderes real ist? Die Uhrenradios, die Maden, das Zyankali im warmen Wasser und all das, wovor ich mich gefürchtet habe und wovor ich weggelaufen bin? Ist das auch wahr? Was ist mit Lucy? Es dreht sich so schnell um mich, dass ich nicht mehr mithalten kann. Was ist, wenn ich wieder Halluzinationen habe? Wenn ich einen Unschuldigen getötet habe? Schaudernd ringe ich nach Luft und unterdrücke den Brechreiz.
Er hat etwas betrachtet. Im Dunkeln schleiche ich durch den Gemeinschaftsraum. Flach und kantig stehen die Tische in dem Mondlicht, das durch die Fenster hereinfällt. Auf einmal berühre ich etwas Dunkles und ziehe die Hand schnell wieder zurück. Etwas hat mich in den Finger geschnitten. Vorsichtig taste ich den Boden ab und entdecke ein Klemmbrett. Als ich es ins Mondlicht ziehe, stockt mir der Atem. Auf dem Brett haftet ein Blatt mit meinem Namen und meinem Foto, dazu ein kurzes Dossier. Ich halte den Atem an und lese schockiert die Liste aller meiner Symptome, dann die Auszüge aus den Polizeiakten und schließlich eine Aufstellung aller Orte, an denen ich je gelebt habe. Auf der Rückseite des Blatts geht es weiter. Dahinter, direkt auf dem Holz des Klemmbretts, klebt ein Zettel, auf den jemand eine vierstellige Zahl geschrieben hat: Vier-null-acht-neun. Ich betrachte die Tastatur an der Pforte. Gehe ich richtig in der Annahme, dass …
Der Nachtwächter ist schon viel zu lange weg, er müsste jeden Augenblick zurückkehren. Ich stehe auf und gehe einen Schritt, dann halte ich inne. Was kann ich schon tun? Wenn ich recht habe, sind meine Albträume wahr, und das ganze Krankenhaus ist unterwandert. Wenn ich mich irre, habe ich einen Unschuldigen getötet. Wie auch immer, ich muss verschwinden. Ich werfe noch einen Blick auf das Klemmbrett und tippe mit dem Finger auf den Code für die Pforte. Wenn ich den Toten verstecke, finden sie ihn vielleicht erst am nächsten Morgen. Bis dahin bin ich hoffentlich längst untergetaucht.
Aber nur, wenn ich mich beeile.
Ich nehme die Papiere vom Klemmbrett und stecke sie mir unter das Hemd, dann packe ich den Raumpfleger an den Füßen und ziehe ihn um die Stühle herum und den Flur entlang in mein Zimmer. Dort fällt mein Blick auf das Uhrenradio. Für alle Fälle werfe ich eine Decke
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