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Du stirbst zuerst

Du stirbst zuerst

Titel: Du stirbst zuerst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Wells
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darüber. Wider alle Hoffnung fühle ich den Puls am Handgelenk des Raumpflegers. Er ist und bleibt tot.
    Im Schlafanzug eines Patienten entkomme ich nie aus der Klinik, deshalb ziehe ich dem Raumpfleger den dunkelblauen Overall aus und streife ihn über meine Sachen. Abgesehen von dem Gesicht wirkt der Mann völlig normal. Ich hieve den Toten in mein Bett, falls der Nachtwächter durch das Fenster späht, und lege ihn so natürlich wie möglich hin, ohne den Kopf zu berühren. Wieder lausche ich. Immer noch keine Schritte.
    Ich brauche Medikamente. Ohne die Medikamente kann ich nicht fliehen. Wenn die Halluzinationen wieder einsetzen, werde ich im Handumdrehen wieder gefasst.
    Ich husche in den Flur, schnappe mir den Wischmopp, schiebe den Eimer vor mir her und gebe mir große Mühe, mich wie ein Raumpfleger zu verhalten. Vor dem Sta­tionszimmer bleibe ich stehen und betrachte die elek­tronische Barriere, die Doktor Little hinter dem Fenster errichtet hat. Die Pforte befindet sich gleich daneben, höchstens fünf Schritte entfernt. Einen anderen Ausgang gibt es nicht, daran führt kein Weg vorbei. Ich schiebe mich weiter und blicke durch die Tür in das hell erleuchtete Schwesternzimmer. Sharon, die Nachtschwester, sitzt zusammengesunken auf dem Stuhl, sie hat den Kopf auf den Schreibtisch gelegt, und auf ihrem Haar tanzen die bunten Lichter des Fernsehers.
    Was ist hier los?
    Ich schleiche in den Raum und sehe mich nach den Arzneischränken um, vergeblich. Also lagern die Medikamente irgendwo anders. Keuchend haste ich hinaus und merke, dass ich während meines Aufenthalts im Stationszimmer die ganze Zeit den Atem angehalten habe. Ruhig, sage ich mir. Du kommst hier nicht raus, wenn du nicht ruhig bleibst. Ich kann es mir nicht leisten, noch länger durch die Klinik zu irren, ich muss mir die Medizin auf andere Weise beschaffen.
    Im Flur summen die elektrischen Felder, und mein Kopf summt zurück. Mit knirschenden Zähnen kämpfe ich mich weiter und tippe den Code vom Zettel auf dem Klemmbrett ein. Er funktioniert. Ich schiebe den Eimer hindurch und schnaufe erleichtert, als sich die Pforte hinter mir schließt. Mit gesenktem Blick trete ich durch die Doppeltür und gehe. Nach kurzer Zeit finde ich die Treppe und die Eingangshalle.
    Ich bin draußen.
    Ich bin frei, spüre den Wind im Gesicht und den sanften Regen auf dem Haar. Über mir spannt sich der Himmel – nicht nur ein kleines Stück hinter einem vergitterten Fenster, sondern der ganze Himmel. Weit, dunkel, unendlich. Wie ein ganz normaler Mann, der von einem ganz normalen Job nach Hause zurückkehrt, gehe ich langsam, ohne Eile und ohne mich umzusehen, über den Parkplatz vor der Klinik. Es ist kurz nach drei Uhr morgens.
    Der Raumpfleger hatte ein wenig Kleingeld in der Tasche, aber keinen Ausweis, außerdem einen Schlüs­selbund. Wahrscheinlich hat er das Portemonnaie und die Autoschlüssel irgendwo in einem Spind gelassen, doch ich wage nicht, noch einmal umzukehren und danach zu suchen. Das Kleingeld reicht für den Bus, sobald ich weiß, wohin ich will, und vielleicht noch für ein billiges Frühstück oder einen Burger. Ich könnte auch mit dem Zug fahren, doch auf den Bahnhöfen gibt es Überwachungskameras, und sobald sie wissen, dass ich weg bin, werden sie mich suchen und die Aufzeichnungen überprüfen. Gibt es auch in Bussen Kameras?
    Den öffentlichen Nahverkehr muss ich meiden. Ich sollte den nächsten Freeway suchen und per Anhalter die Stadt verlassen. Nur weg von hier, nur raus und kein Blick zurück. Je weiter, desto besser. Die Gesichtslosen sind real – ich habe mich immer noch nicht ganz von der Erkenntnis erholt. Ich muss so schnell wie möglich verschwinden und mich so weit wie möglich entfernen. Was sie mir auch angetan haben, ich bin geflohen, und sie dürfen mich nie wieder finden.
    An einer Kreuzung bleibe ich stehen und stelle den Kragen als Schutz vor dem Wind hoch. Trotz der nächtlichen Stunde sind viele Autos unterwegs; ich sehe nur Reflexe, dunkle Formen und Streifen. Taghell strahlt die Stadt, sie fließt über vor Licht. Neon, Halogen und Phosphor schleudern elektrisch geladene Photonen in alle Richtungen. Sogar das Pflaster glüht, in Pfützen und Abflussrinnen spielen bunte Funken. Die Ampel wechselt von Rot auf Grün, der Verkehrsfluss ändert sich, und ich kann die Straße überqueren. Über jeder Ampel hängt eine Überwachungskamera. Ich halte den Blick gesenkt. Auf diese Kameras können sie natürlich auch

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