Du und ich und all die Jahre (German Edition)
ihn nicht anschreien und nicht einfach abhauen. Dads Krankheit macht mich zu seiner Gefangenen. Ich hole tief Luft, setze mich wieder und lächle ihn so freundlich an, wie ich nur kann. «Brauchst du irgendwas, Dad? Oder kann ich irgendetwas für dich tun?»
Er schüttelt den Kopf und bedeckt die Augen mit der Hand, wirkt erschöpft. Ich beiße mir auf die Unterlippe, um die Tränen zurückzuhalten. Er sieht mich überrascht an.
«Was ist los?», fragt er. «Ist was nicht in Ordnung? Weinst du etwa?» Er hievt sich auf die Füße, schlurft zu mir hinüber und setzt sich neben mich. Dann nimmt er meine Hand. «Noch bin ich nicht tot, Liebling», sagt er, und ich kann die Tränen nicht länger unterdrücken.
Ich verspreche ihm, am nächsten Morgen noch einmal vorbeizukommen, bevor ich nach London fahre. Auf dem Weg zum Bed and Breakfast kaufe ich eine Flasche Wein und eine Schachtel Marlboro Lights im Laden an der Ecke. In den Zimmern darf man bestimmt nicht rauchen, aber zur Not setze ich mich eben ans offene Fenster. Wie eine Dreizehnjährige.
Das Bed and Breakfast ist schöner, als ich erwartet hatte: ein hübsches Haus im viktorianischen Stil mit großen Zimmern und ohne viel Chintz. Ich lege mich mit einem Glas Rotwein in der Hand auf das breite Bett und genieße das Alleinsein, wünsche mir, ich könnte ein paar Tage hierbleiben. Niemand weiß, wo ich bin, stelle ich fest. Ich bin abgetaucht. Von der Bildfläche verschwunden. Wunderbar, eine großartige Flucht, völlig verantwortungslos und selbstsüchtig.
Ich kann das Gefühl jedoch nicht lange genießen, denn mein Handy, das ich noch nicht wieder eingeschaltet habe, liegt als stillschweigende Mahnung auf dem Nachttisch. Irgendwann muss ich das Ding wieder anstellen. Also mache ich es gleich und bereue es sofort.
Nachricht eingegangen heute um 16.24.
«Nic, ich glaube es einfach nicht. Was hast du vor? Ich habe Matt und Liz schon eingeladen – die beiden sind sicher bereits auf dem Weg hierher. Ich verstehe dich einfach nicht … Soll ich dir wirklich glauben, dass du das heute spontan entschieden hast? Herrgott, das macht mich fuchsteufelswild!»
Nachricht eingegangen heute um 16.32.
«Ruf mich zurück, verdammt noch mal. Dir ist schon klar, dass wir übermorgen nach New York fliegen, oder?»
Nachricht eingegangen heute um 17.15.
«Weißt du was, Nicole? Komm ja nicht nach Hause und heul, wenn die Aktion in einer Katastrophe endet.»
Nach der dritten Nachricht kann ich nicht mehr, und an baldigen traumlosen Schlaf ist erst recht nicht zu denken. Ich liege wach, habe Angst, das schlechte Gewissen nagt an mir. Ich klappe meinen Laptop auf und unternehme einen halbherzigen Versuch zu arbeiten. Ich tippe die Notizen ab, die ich mir bei meinem Gespräch mit Annie gemacht habe, fühle mich danach aber nur noch schlechter. Schließlich logge ich mich in meinen geheimen Hotmail-Account ein und checke die eingegangenen Nachrichten.
Ich habe vor einer Stunde noch eine Mail von Alex bekommen.
Alex an Nicole
Redest du wieder nicht mit mir? Oder hast du nur viel zu tun?
Vielleicht bist du bei deinen Schwiegereltern.
Wie dem auch sei, irgendwann wirst du das hier ja lesen. Ich habe Aaron heute Morgen wegen Jessica zur Rede gestellt. Eigentlich wollte ich dabei kühl und sachlich bleiben, habe aber stattdessen völlig die Kontrolle verloren, ihn angeschrien und geweint und mit Gegenständen geworfen. Ich schäme mich jetzt so. Er war zerknirscht und hat um Verzeihung gebeten, gesagt, das mit ihr «ist dumm, bedeutungslos und es geht nur um Sex» – als ob es das besser machen würde. Das Arschloch. Was soll ich nur tun, Nic? Er hat mir versprochen (jedenfalls bevor ich ihm den Stein-Elefanten von dir aus Kapstadt an den Kopf geworfen habe – keine Sorge, ist noch heil), dass er mit ihr Schluss macht und sie nie wiedersehen wird. Ich kann ihm nicht glauben.
Ax
Nicole an Alex
Entschuldige bitte. Ich habe deine Nachricht erst gestern spätabends gelesen (die Schwiegereltern waren bei uns) und heute den ganzen Tag gearbeitet. Das mit Aaron tut mir leid. Und natürlich finde ich nicht, dass du so was verdient hast. Höchstens ein bisschen.
Leider kann ich dir keinen guten Rat geben, sorry. Deine Situation jetzt und meine damals sind komplett verschieden. Es stand damals nicht wirklich zur Debatte, dass ich Dom verlasse. Du bist noch nicht verheiratet. Du kannst einfach gehen, wenn du willst. Willst du? Liebst du ihn?
Warum hast du so einen
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