Du und ich und all die Jahre (German Edition)
auf dem Tisch ein Notizbuch. Auf dem Umschlag steht in der sauberen Handschrift meines Vaters NB, Arbeit, 2006 – . Ich schlage die erste Seite auf. Es beginnt mit dem Datum 6. März 2002. Darunter hat mein Vater ein kleines Stück Zeitung aufgeklebt, es ist aus dem Fernsehprogramm ausgeschnitten:
BBC Choice, 23:30 Uhr: Sklaverei im einundzwanzigsten Jahrhundert – Ein erschütternder Blick in die Welt des Menschenhandels zwischen Osteuropa, Afrika und Großbritannien, die Sendung interviewt Zwangsprostituierte und die Männer, die für ihre Dienste bezahlen.
Es ist ein Programmhinwies auf meinen allerersten Film, der im Fernsehen gezeigt worden ist. Ich blättere weiter zur nächsten Seite – ich bin erstaunt. Hier, in diesem Buch, mit Hilfe von Zeitungsausschnitten und Kritiken, hat mein Vater meine gesamte Karriere dokumentiert. Ich kann es gar nicht glauben, ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Er wusste alles über mich, alles, was ich gemacht hatte. Ihm fehlte nur der Mut, zum Telefon zu greifen und mir zu sagen, dass er stolz auf mich ist.
Ich blättere in dem Büchlein herum, bis ich zur Mitte komme: Dort befindet sich ein Artikel aus der Marie Claire . Ich werde darin als eine der großen Newcomerinnen unter dreißig im Bereich Kultur erwähnt. Das waren noch Zeiten. Es gab sogar ein Bild von mir, auf dem ich sehr ernst aussehe in meinem schwarzen Hosenanzug, umgeben von hübscheren, fröhlicheren Figuren: Schauspielerinnen, Komponistinnen, Musikproduzentinnen.
Das war im Sommer 2007. Danach gab es nur noch zwei Einträge. Dad sieht mir dabei zu, wie ich noch ein paar leere Seiten umblättere und das Notizbuch dann zuklappe.
«Du bist groß rausgekommen, Nicole», sagt er.
«Na ja, es hatte gut angefangen», sage ich mit einem kurzen verlegenen Lachen.
Wir setzen uns an den Tisch. Dad schlingt seinen Blaubeermuffin hinunter. Ich breche kleine Stückchen von meinem ab. Apfel-Vollkorn. Ich versuche, mich gesund zu ernähren.
«Woran arbeitest du gerade?», fragt er. Vor dieser Frage habe ich in letzter Zeit Angst.
«Es … es ist etwas über Beziehungen.»
«Schön …» Er erwartet offensichtlich, dass ich mehr erzähle, aber ich will nicht.
«Es ist nichts Besonderes. Eine Sendung für Channel 5. Ziemlicher Müll, wenn man es genau nimmt.» Er wirkt enttäuscht. «Im Moment mache ich nicht so viele seriöse Reportagen.»
«Aber warum denn? Deine Sachen waren doch toll. Diese Sendung über Menschenhändler, der Film, den du in Albanien gemacht hast – der war richtig gut, hat Eindruck hinterlassen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich mit ein paar Typen auf der Arbeit darüber gesprochen habe.»
Ich bin gleichzeitig gerührt und sauer. Gerührt, weil er nach all der Zeit und trotz allem so stolz auf mich ist, dass er vor seinen Kollegen mit mir angibt. Sauer, weil er überhaupt fragen muss, warum ich die seriösen Reportagen aufgegeben habe.
«Tja, weißt du. Nach allem, was passiert ist, hatte ich keine Lust mehr, dauernd unterwegs zu sein. Ich wollte nicht nach Albanien, an die Elfenbeinküste oder nach Afghanistan, sondern in England bleiben. Zu Hause bei Dom.»
«Ach so …» Er klingt nicht gerade überzeugt von dieser Erklärung. «Es ist trotzdem schade, weil du so erfolgreich warst.»
Ich trinke einen Schluck Kaffee.
«Am Donnerstag fliege ich nach New York», sage ich dann.
«Tatsächlich? Arbeitest du da?»
«Nein, Dad, ich mache Urlaub. Dom und ich fliegen zusammen. Wir wollen auf eine Party. Von Karl.»
«Karl?»
«Julians Karl.»
«Ach so.»
Wir trinken schweigend unseren Kaffee aus. Dann gebe ich Dad meinen Muffin; ich habe keinen Hunger mehr. Als er aufgegessen hat, steht er auf und stellt das Notizbuch ins Regal zurück, neben das Adressbuch und ein kleines gerahmtes Foto. Dad und Onkel Chris in jungen Jahren, wahrscheinlich in ihren Zwanzigern. Ich sehe mich im Zimmer um. Es ist das einzige Foto, das er aufgestellt hat.
Ich stehe auf. «Ich muss los, Dad. Dom erwartet mich zu Hause.»
«Na gut.» Er sieht enttäuscht aus.
«Ich besuche dich wieder, sobald wir aus New York zurück sind. In Ordnung?»
Dad zuckt mit den Schultern.
«Ich verspreche es.» Ich will ihm die Hand auf die Schulter legen, doch er weicht mir aus und dreht mir den Rücken zu. Dann räumt er die Kaffeebecher vom Küchentisch.
Jetzt habe ich wieder Angst und fühle mich unwohl wie gestern Abend schon. Dad bringt mich zur Tür.
«Eigentlich wollte ich dich um
Weitere Kostenlose Bücher