Du und ich und all die Jahre (German Edition)
einen Gefallen bitten», sagt er.
«Natürlich», antworte ich.
«Ich möchte mich mit deiner Mutter treffen», sagt er, mir rutscht das Herz in die Hose. «Ich habe vor ein paar Wochen bei ihr angerufen, aber da war ein Mann am Telefon, mit dem wollte ich nicht sprechen, deshalb habe ich aufgelegt. Ich möchte, dass du sie fragst. Dass du sie darum bittest, mich zu besuchen.»
«Dad …»
«Das ist keine große Sache, Nicole. Ich verlange nicht viel.»
Genau wie ich, denke ich, aber ich sage nichts. Ich will Mom nicht fragen, ob sie ihn besuchen kommt, sonst fühlt sie sich dazu verpflichtet. Dabei schuldet sie Dad überhaupt nichts. Außerdem bin ich traurig. Er wollte mich also nur sehen, damit ich Mom überrede, ihn zu besuchen? Um mich ging es also gar nicht?
«Nicole?»
«Sie ist gerade auf Reisen», sage ich, ohne ihm in die Augen zu sehen.
«Wann kommt sie denn zurück?»
«Das weiß ich nicht genau», lüge ich. Mom kommt heute Abend wieder. Mein Vater weiß, dass ich lüge, das sieht man ihm an.
«Es ist keine große Sache, Nicole. Ich möchte sie nur sehen, ehe …»
«Ehe du operiert wirst.»
«Ehe ich dorthin gehe.»
«Ich werde sehen, was ich tun kann», sage ich. Dad beobachtet von der Tür aus, wie ich wegfahre.
Noch bevor ich am Ende seiner Straße angelangt bin, muss ich anhalten. Ich weine so sehr, dass ich nicht sehen kann, wo ich hinfahre. Natürlich bin ich verletzt, aber das ist nicht alles. Ich bin so wütend auf ihn, so sauer, dass er mein ganzes Leben verpasst hat, dass er nicht dabei war, als ich erwachsen geworden bin, und dass ich keinen Vater hatte. Und wofür das alles? Für nichts. Ich habe ihm verziehen, ich habe ihm das schreckliche Silvester damals verziehen, als er meine Mutter geschlagen hat, wir hätten wieder zusammenfinden können. Aber er hat sich dagegen entschieden. Nachdem er bei Mom rausgeflogen war, hat er mich ebenfalls aus seinem Leben gestrichen. Ich verstehe das noch immer nicht.
Es ist ja nicht so, dass wir uns nie nahegestanden hätten. Ich kann mich daran erinnern, dass er mich als Kind, da war ich vielleicht fünf oder sechs, zum Angeln mitgenommen hat. Samstags fuhren wir nach Spade Oak und saßen stundenlang am Ufer. Wir haben nie irgendetwas gefangen, und es war immer erbärmlich kalt, aber ich weiß noch, dass ich es wunderbar fand – die Würmer auf den Haken zu stecken, Steinchen springen zu lassen, in den Bäumen nach Vogelnestern Ausschau zu halten oder einfach nur neben ihm zu sitzen und seine große warme Hand zu halten. Ich weiß noch, wie Mama zu ihren Freundinnen gesagt hat: «Sie ist ein Papakind, da habe ich keine Chance.»
Ich weiß nicht mehr, wann wir aufgehört haben, angeln zu gehen. Ich weiß nicht mehr, ab wann ich nicht länger Dads kleines Mädchen war. Irgendwann als ich älter wurde, alt genug, um zu merken, wie hart er gegen Mom war, wie ungerecht er sein konnte. Damals habe ich die Seiten gewechselt. Das hat er mir anscheinend nie verziehen.
Und jetzt geht es mir gut, und Mom geht es gut, und er ist alleine. Was mich dabei halb umbringt, was mich am allermeisten trifft, ist seine Einsamkeit. Sie ist einfach unerträglich, und wenn sie für mich schon unerträglich ist, mag ich mir gar nicht vorstellen, wie das für ihn sein muss.
Auf dem Weg zurück nach London halte ich an der Raststätte Chieveley an, kaufe mir einen doppelten Cheeseburger mit Speck und schlinge ihn hungrig herunter. Ich hätte den Apfel-Vollkorn-Muffin essen sollen. Mutig schalte ich mein Handy ein und höre meine Nachrichten ab.
Nachricht eingegangen heute um 8.52.
«Ich bin’s. Deinen Anruf gestern Abend habe ich verpasst. Ich war nicht in der Stimmung, mit dir zu sprechen. Darf ich davon ausgehen, dass du heute zurückkommst? Oder planst du einen längeren Aufenthalt? Fliegen wir nach New York, oder soll ich die Flüge stornieren?»
Dom klingt weinerlich und sarkastisch, ich lösche die Nachricht.
Nachricht eingegangen heute um 10.33.
«Hallo, Nic, ich bin’s.»
Es gibt nur wenige Menschen, die sich mit «Ich bin’s» melden können. Eltern, Geschwister, Lebenspartner. Ehemalige Liebhaber gehören eher nicht auf die Liste – Aidan macht es trotzdem.
«Ähm … Ich wollte nur ein bisschen quatschen. Es ist jetzt … Himmel, wie spät ist es? Halb fünf. Morgens. Ich kann nicht schlafen. Ich möchte mit dir über die Arbeit reden, den Job, den ich in der E-Mail erwähnt habe … Ruf mich an, ja?»
Ich speichere die
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