Du und ich und all die Jahre (German Edition)
aber aus ihrem Blick sprachen Zweifel. Völlig zu Recht, wie sich herausstellen sollte. Gerry lachte nämlich nur über einen möglichen Prozess.
«Dann leg mal los, Schätzchen, wenn du unbedingt willst. Viel Glück dabei. Rechne aber nicht damit, dass du hinterher je wieder in unserer Branche einen Job bekommst. Kleine Mädchen, die bei jeder Lappalie gleich was von Belästigung faseln, sind für Arbeitgeber nicht sonderlich attraktiv.»
«Das war keine Lappalie», protestierte ich, «sondern sehr viel ernster.»
«Sagt die kleine Assistentin. Simon erzählt da was ganz anderes.»
«Das ist unglaublich», protestierte ich.
Gerry zuckte mit den Achseln. «Ihr Mädels müsst euch etwas wärmer anziehen, wenn ihr in der Medienbranche arbeiten wollt», belehrte er uns. «Das ist hier kein Häkelclub, sondern das echte Leben, und Jobs gibt es nicht wie Sand am Meer.»
Jo marschierte frustriert aus Gerrys Büro, und ich folgte ihr bis zur Tür, wo ich stehen blieb und mich umdrehte. Dann sagte ich mit lauter, fester Stimme: «Es ist mir völlig wurscht, wie schwer es heutzutage ist, einen Job zu finden. Sie und Simon – ihr beide könnt euch mal ins Knie ficken.»
Jo wurde einige Wochen später «freigestellt». Es gelang uns beiden aber, eine Stelle bei einer anderen Produktionsfirma zu ergattern. Dort produzierten wir Zutritt nur für Männer , eine Dokumentation über Sexismus am Arbeitsplatz. Wir hatten Glück und bekamen ein Interview mit der bekanntesten (okay, der einzigen bekannten) Hedge-Fonds-Managerin Großbritanniens, in dem sie sich über ziemlich berühmte Persönlichkeiten ausließ. Sie hatte gerade ihr viertes Kind bekommen, nicht vor, in ihren Beruf zurückzukehren, und kein Problem damit, verbrannte Erde zu hinterlassen. Ganz im Gegenteil, sie genoss ihren Feldzug. Das Programm sorgte für eine Menge Wirbel und bekam als krönenden Abschluss den britischen Filmpreis für die beste Dokumentation. Und ich wurde dadurch berühmt.
Genau wie Jo: Die Presse fotografierte sie, wie sie Simon während der Verleihung ein Glas Champagner ins Gesicht schüttete. Ihr hübsches Gesicht zierte daraufhin sämtliche Zeitungen, und ein paar Wochen später bekam sie einen Job als Moderatorin bei einem US-Sender. Heute lebt sie in Beverly Hills.
Bei der Erinnerung muss ich lächeln, während ich mir einen Tee mache, mit dem ich mich vors Küchenfenster stelle und hinaussehe.
Es ist fast fünf Uhr und noch immer pechschwarz draußen. Trotzdem, ich werde in der nächsten Woche keine Gelegenheit mehr haben, mit den Hunden rauszugehen, warum also nicht? Ich schleiche zurück nach oben und hole ein altes Paar Jeans aus dem Schrank. Dom schlummert noch immer friedlich in exakt der gleichen Position, in der er abends eingeschlafen ist. Unglaublich.
Zurück im Erdgeschoss, sind Mick und Marianne nicht im mindesten aufgeregt, weil ich meine Gummistiefel anziehe. Stattdessen sehen sie mich nur verschlafen und ungläubig an. Sie erwartet doch sicher nicht von uns, dass wir um diese Zeit rausgehen? Aber mit etwas gutem Zureden bringe ich die beiden doch dazu aufzustehen, und schon spazieren wir in der eisigen Dunkelheit die Straße hinunter. Unser Atem bildet kleine weiße Wolken.
Wir gehen zum Common. Weil ich kaum etwas erkennen kann, stolpere ich ein paar Mal und habe Angst, aber diese Angst ist aufregend. Ich erinnere mich plötzlich wieder daran, wie ich den Adrenalinschub früher genossen habe, diesen Knoten im Magen, wenn das Blut in meinen Ohren rauschte und das Herz schneller schlug. Irgendwo in der Dunkelheit höre ich ein Geräusch, zucke zusammen, stolpere, drehe mich um und renne los. Die Hunde sprinten voraus. Dann bleibe ich stehen und drehe mich um. Ich kann niemanden sehen.
Was soll auch jemand im Dezember um fünf Uhr morgens draußen zu suchen haben? Aber trotzdem, die Angst ist auf einmal doch nicht mehr ganz so berauschend, und ich gehe mit den Hunden lieber wieder nach Hause.
Es bleiben noch zwei Stunden, bis wir zum Flughafen aufbrechen müssen, und ich komme einfach nicht runter. Ich habe alles gepackt, es gibt nichts mehr zu tun. In meiner Angespanntheit ertrage ich es nicht, tatenlos rumzusitzen, also schreibe ich Dom eine Nachricht, steige ins Auto und fahre zur Tankstelle an der A3. Dort kaufe ich zwei Kaffee und mache mich dann auf den Weg nach Cobham. Um diese Uhrzeit brauche ich dafür weniger als zwanzig Minuten. Ich parke auf der Straße vor Moms Haus und rufe sie auf dem Handy
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