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Du wirst schon noch sehen wozu es gut ist

Titel: Du wirst schon noch sehen wozu es gut ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Cameron Stefanie Kremer
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wieder an mich denken würde, und wenn er es doch tat, dann nur, um den Leuten von diesem irren, mitleiderregenden Jungen zu erzählen, der ihm nachgestellt hatte.

15
    Dienstag, 29. Juli 2003
    Der Bahnhof Grand Central war überfüllt, obwohl es erst vier Uhr war, und alle hetzten und drängelten, um ihre Züge zu erwischen und aus der Stadt zu kommen. Es war wie eine Massenevakuierung am Tag des Weltuntergangs, alle flüchteten entkräftet aus dem einen elenden Leben ins andere. Man konnte deutlich sehen, dass sie ihr Bürodasein hassten, sich aber auch nicht so richtig darauf freuten, zu ihren gereizten Ehefrauen und verzogenen Bälgern zurückzukehren, oder zu niemandem, wenn sie allein lebten. Die Zugfahrt stellte diese kurze Unterbrechung zwischen den beiden Teilen ihres Lebens dar, während der sie einfach nur sie selbst sein konnten, ohne Chef, ohne Ehefrau, ohne Kollegen, ohne Kinder.
    Die Frau, neben der ich saß, las in der Bibel. Sie hatte eines dieser beschichteten religiösen Lesezeichen mit einem grausamen Bild von Jesus darauf und einer kleinen rosa Quaste daran, und sie benutzte es, um im Text von einer Zeile zur nächsten zu gehen. Sie bewegte die Lippen beim Lesen und sprach jedes Wort ganz leise vor sich hin. Irgendetwas an diesem Nebeneinander des blutenden Jesus und der niedlichen rosa Quaste machte mich ganz unruhig. Es war, als legte man ein herausgeschnittenes Herz in eine Schachtel und umhüllte das Ganze mit hübschem Geschenkpapier. Als sie ausstieg (in Woodlawn), küsste sie das Lesezeichen und steckte es dann in die Bibel. Manchmal beneide ich die frommen Menschen um den Trost ihres Glaubens. Das würde alles so viel einfacher machen.
    Vom Bahnhof ging ich zu Fuß zum Haus meiner Großmutter, durch das Wohngebiet mit den schönen alten Häusern und den großen Bäumen und grünen Rasenflächen. Vor einem der Häuser arbeitete eine Gruppe mexikanischer Gärtner, und ein Junge, der eindeutig jünger war als ich, schob einen Rasenmäher, der fast so groß war wie er selbst, über den Rasen. Als ich vorbeiging, sah er mich an und lächelte, er lächelte auf eine sehr fröhliche, freundliche Art und zeigte dabei seine schönen weißen Zähne, als wäre er stolz, dass man ihn beim Rasenmähen sah. Ich lächelte ihm zu, und er winkte. Es ist seltsam, auf solche Weise mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen und dann einfach weiterzugehen. Ich begreife das nicht. Und es ist merkwürdig, denn ich bin ja nicht sehr gesellig, doch wenn ich mit einem Fremden Kontakt aufnehme - und selbst, wenn wir einander nur zulächeln oder zuwinken, was wohl nicht als richtige Kontaktaufnahme angesehen wird, aber für mich ist es eine -, dann habe ich so ein Gefühl, als könnten wir beide nicht einfach so weiterleben, als wäre nichts geschehen. Dieser mexikanische Junge zum Beispiel, der den Rasen in Hartsdale mähte, wie war er dahingekommen, wo wohnte er, was dachte er? Es ist, als wäre sein Leben eine Pyramide, ein Eisberg, und ich sehe nur die Spitze, die winzige Spitze, aber darunter breitet es sich aus, breitet sich in alle Richtungen und immer weiter in die Vergangenheit aus, sein ganzes Leben liegt unter ihm, in ihm, alles, was ihm je zugestoßen ist, das alles fügt sich zusammen und ergibt genau diesen Moment, diese Sekunde, in der er mich anlächelt. Ich dachte an die Dame neben mir im Zug, die in der Bibel gelesen hatte. Wo war sie wohl jetzt? Zu Hause? Ich weiß, ich hatte keinen Grund gehabt, in Woodlawn aus dem Zug zu steigen und ihr nachzugehen, aber was, wenn doch? Was, wenn sie dazu bestimmt gewesen war, eine wichtige Rolle in meinem Leben zu spielen, oder wenn sie eine solche Rolle hätte spielen können? Ich glaube, genau das macht mir Angst: die Zufälligkeit von allem. Dass die Menschen, die wichtig für einen sein könnten, vielleicht einfach an einem vorbeigehen. Oder man selbst geht an ihnen vorbei. Woher sollte man das wissen? Sollte ich umkehren und mit dem mexikanischen Jungen reden? Vielleicht war er ja einsam, so wie ich, vielleicht las er Denton Welch. Ich spürte, indem ich weiterging, ließ ich ihn im Stich, mein ganzes Leben lang, Tag für Tag, ließ ich andere Menschen im Stich.
    Mir ist durchaus klar, dass es keinen Sinn ergibt, so zu empfinden und dennoch niemals den Versuch zu unternehmen, auf einen anderen Menschen zuzugehen, aber so langsam denke ich, dass das ganze Leben voll von solchen tragischen Widersprüchen ist.
    In der Straße meiner Großmutter war es

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