Du wirst schon noch sehen wozu es gut ist
ich, wie meine Großmutter sagte:«James.»
Ich blickte zu ihr hinüber. Im Zimmer war es dämmrig geworden, aber ich konnte ihr Gesicht sehen, das noch immer in die Tagesdecke gedrückt war. Ihre Augen waren offen, und sie beobachtete mich.
«Ja», sagte ich.
Sie sah mich einen Augenblick lang ausdruckslos an, als wäre ich immer da, wenn sie von einem Schläfchen erwacht. Dann setzte sie sich auf. Sie strich sich über die Haare und fuhr mit dem Handrücken über den Mund, um den Sabber wegzuwischen. Diese Geste hatte etwas ungewohnt Derbes an sich.
«Wie spät ist es?», fragte sie.
«Ich weiß nicht», sagte ich.
Sie sah sich einen Moment lang im Zimmer um, als müsste sie sich wieder zurechtfinden. Dann stand sie auf und klatschte leicht in die Hände.«Nun, ich bin mir sicher, dass es Zeit für einen Drink ist. Warum gehst du nicht nach unten und machst mir einen, und lässt mich versuchen, mich wieder herzurichten. Es gibt nichts Hässlicheres als eine alte Dame, die gerade von einem Schläfchen erwacht ist.»
Unten machte ich ihr einen Drink - Whiskey und Wasser auf Eis -, schüttete ein paar gemischte Nüsse aus einer Dose in eine kleine Keramikschale, auf deren Innenseite das Heidelberger Schloss abgebildet war (das wusste ich, weil unter dem Bild Das Heidelberger Schloss, 1928 stand), legte in ihrer alten Musiktruhe eine Schallplatte mit dem Titel Die Brunnen von Rom auf, von der meine Großmutter findet, es sei«herrliche Cocktailmusik», setzte mich hin und wartete.
Nach ein paar Minuten hörte ich, wie sie die Treppe herunterkam. Sie trat ins Wohnzimmer, und ich sah, dass sie sich umgezogen hatte - sie trug jetzt ein cremefarbenes, kurzärmeliges Kleid, das mit großen rosa und blauen Hortensienblüten übersät war. Und sie hatte sich Haare und Gesicht zurechtgemacht und etwas Lippenstift aufgetragen, der zu den rosa Blumen auf ihrem Kleid passte. Sie sah den Drink, der auf dem Couchtisch auf sie wartete, und sagte:«Das sieht aber köstlich aus.»Sie setzte sich hin und sagte:«Und wie ich sehe, hast du dir selbst auch einen gemacht, wie klug du doch bist.»Dann hob sie ihr Glas und sagte:«Wir sind am Leben.»Diesen Trinkspruch bringt meine Großmutter oft aus, aber er bedeutet verschiedene Dinge zu verschiedenen Zeiten: Manchmal bedeutet er, Nun, zumindest sind wir nicht tot , und manchmal bedeutet er, Ist es nicht wunderbar, dass wir am Leben sind! Ich war mir nicht sicher, was er an diesem Abend bedeuten sollte. Ich beugte mich vor, stieß mit ihr an und sagte:«Ja, wir sind am Leben.»
Sie nahm einen kleinen Schluck und sagte:«Er schmeckt genauso gut, wie er aussieht.»
Ich nippte an meinem Drink. Eigentlich schmeckte er mir nicht. Ich trinke nicht so gerne Alkohol: Meistens macht er mich traurig und müde. Oder noch trauriger und müder, als ich es ohnehin schon bin. Ich warte immer auf dieses heitere Glücksgefühl, das sich angeblich einstellt, wenn man betrunken ist, aber es kommt nie. Deshalb hatte ich mir einen viel schwächeren Drink gemacht als ihr.
«Also», sagte sie. Sie machte eine Schachtel mit silbernen Untersetzern auf und nahm zwei heraus. Sie legte vor jeden von uns einen Untersetzer und stellte ihren Drink darauf.«Also», sagte sie,«was verschafft mir die große Ehre?»
«Welche Ehre?»
«Die Ehre deines Besuchs.»
«Kann ich dich nicht einfach so besuchen?»
«Darf ich. Doch, das darfst du. Natürlich darfst du das.»
«Eigentlich …», sagte ich, doch dann stockte ich wieder. Ich wusste nicht, wie ich fortfahren sollte. Es kam mir so anstrengend vor zu versuchen, jemandem zu erzählen, was mit mir nicht stimmte. Der mexikanische Gartenjunge fiel mir ein, der mich angelächelt hatte, und die Pyramide unter ihm, über die ich nachgedacht hatte, und genau so fühlte es sich nun an - nur jemand, der die Pyramide unter einem verstand, konnte verstehen, wer man in einem ganz bestimmten Augenblick war, und meine Großmutter kannte mich wahrscheinlich besser als irgendjemand sonst auf der Welt (einschließlich meiner Mutter), und dennoch erschien es mir unmöglich, ihr zu erzählen, was nicht stimmte. Also senkte ich den Kopf und schwieg.
Die meisten Menschen hätten etwas gesagt, mich gedrängt, nicht aber meine Großmutter. Sie nippte wieder an ihrem Drink und stellte ihn zurück auf den Untersetzer, dann schob sie den Untersetzer ein paar Zentimeter zur Seite, als hätte er an der falschen Stelle gelegen. Sie saß da und betrachtete ihn, als könnte er sich
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