Du. Wirst. Vergessen.: Roman (German Edition)
ich.
»Worauf?«
»Glaubst du … glaubst du, dass wir unsere Erinnerungen zurückbekommen können?«, will ich wissen.
»Nein«, sagt er traurig. »Ich habe wirklich jeden gefragt. Recherchiert. Und nach dem, was ich bis jetzt weiß … nein.« Seine Stimme klingt plötzlich hart, und mir gefällt es. Mir gefällt die Wut, die darin mitschwingt.
» Aber würdest du es denn versuchen?«, frage ich. »Kanns t du mit zu uns nach Hause kommen, dir Bradys Sachen ansehen und versuchen, dich an irgendetwas zu erinnern?«
»Machst du mir ein Sandwich?«
Ich lächele. »Ja. Ich denke schon.«
James schweigt, und ich fürchte schon, dass er sich weigern wird. Aber dann holt er sein Handy hervor, wählt, und seine Stimme klingt auf einmal wie die eines alten Mannes – ziemlich gekonnt, muss ich zugeben. Doch als er fertig ist, wirkt er nervös, als könnte die Tatsache, dass er mich begleitet, irgendetwas in Gang setzen, was er noch nicht einzuschätzen vermag. Aber wir gehen trotzdem. Zusammen.
»Kommen deine Eltern bald nach Hause?«, erkundigt sich James, als wir an unserer Hintertür stehen.
In meinem Bauch flattern zaghaft Schmetterlinge, doch ich versuche, es zu ignorieren. »Nein, das dauert noch ein bisschen.«
Kevin hat eilig die Schule verlassen, nachdem James einen Notfall an der anderen Highschool vorgetäuscht hat, und so habe ich ihm Gott sei Dank nicht ins Gesicht lügen müssen. Im Schulbüro haben sie den falschen Alarm weitergeleitet, ohne Verdacht zu schöpfen. Es macht mir fast schon Angst, wie gut James darin ist, die Regeln zu umgehen.
»Werden sie merken, dass wir uns etwas genommen haben?«, fragt James, als wir unsere unaufgeräumte Küche betreten. Die Töpfe vom gestrigen Abendessen stehen immer noch auf dem Herd, das Geschirr neben der Spüle.
»Ich hoffe nicht«, erwidere ich, ziehe die Tür hinter uns zu und schließe sie ab.
James schaut sich um, lässt alles auf sich wirken, dann sieht er mich an.
»Kommt’s dir bekannt vor?«, will ich wissen.
Er schüttelt den Kopf. »Sorry. Nein.«
Ich bin wirklich enttäuscht und führe James nun nach oben, hoffe, dass ihm zu Brady doch noch etwas einfällt. Aber er wirkt einfach nur verwirrt, als er mir folgt.
Wir bleiben an einer Tür stehen. »Das war das Zimmer meines Bruders«, erkläre ich. Tränen brennen hinter meinen Lidern, aber ich blinzele sie fort.
James geht an mir vorbei, betritt das Zimmer, schaut sich um wie in der Hoffnung, dass schlagartig eine Erinnerung auftauchen könnte. Aber während die Minuten verrinnen, erscheint mir das immer unwahrscheinlicher. Als er mich schließlich mit seinen blauen Augen anschaut, lese ich Bedauern darin. Ich drehe mich um und gehe zurück in den Flur.
Es kommt mir so unwirklich vor, dass Teile unseres Lebens einfach ausgelöscht werden können. Dass zwischen James und mir eine Verbindung besteht, ohne dass wir wissen, welcher Art sie ist. Er kannte Brady. Wie konnte er ihn vergessen?
James ist hinter mir, als ich wieder zur Treppe gehe, dann merke ich, dass er stehengeblieben ist.
»Dein Zimmer?«
Ich drehe mich um und sehe, dass er an der Tür zu meinem Zimmer steht. »Ja.«
»Kann ich’s mal sehen?«
»Wieso?«
»Bin nur neugierig.«
Ich sollte ablehnen und ihn wegschicken, bevor meine Eltern nach Hause kommen, aber es ist so schön, mit ihm zusammen zu sein. Es ist schön zu wissen, dass ich nicht der einzige Mensch bin, der sich hilflos fühlt.
James betritt mein Zimmer und wandert herum, stöbert in dem Krempel, der auf meiner Kommode liegt, probiert aus, wie weich mein Bett ist. Als er bemerkt, dass ich ihn beobachte, lächelt er.
»Ich weiß, dass ich unmöglich bin, das brauchst du mir nicht erst zu sagen.«
»Ich versuche es.«
Er lacht, dann steht er auf. »Kann ich das Foto noch mal sehen?«, fragt er.
Ich lehne am Türrahmen, ziehe die Aufnahme aus meiner Jeans, und dann steht James vor mir. Ganz dicht.
Er nimmt mir das Foto aus der Hand, studiert mein Gesicht. Ich halte den Atem an und sage nichts.
»Er sieht aus wie du«, murmelt er und blickt wieder auf die Aufnahme.
»Wir waren ja auch Geschwister.« Das klingt nicht spöttisch, sondern einfach nur traurig.
James scheint das aufzufallen. »Es tut mir leid, dass er nicht mehr lebt«, flüstert er und mustert mich erneut. »Und es tut mir leid, dass ich mich nicht erinnern kann.«
Es bricht mir fast das Herz, ihn das sagen zu hören. Ich weiß nicht einmal, ob Brady und James einander tatsächlich so nahe
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