Du. Wirst. Vergessen.: Roman (German Edition)
Ringe lege ich erst einmal zur Seite und betrachte das Foto. Und prompt bekomme ich einen Schock.
Es ist ein Bild von Brady – wahrscheinlich kurz vor seinem Tod aufgenommen, doch daran kann ich mich nicht erinnern. Und neben ihm … neben ihm, den Arm um ihn geschlungen, steht James. Der James aus meiner Matheklasse steht neben meinem verstorbenen Bruder. Lächelnd.
8. Kapitel
Bereits von der Tür meines noch halb leeren Klassenraums aus sehe ich, dass James schon an seinem Tisch sitzt. Sein Block liegt aufgeschlagen vor ihm, und er scheint etwas zu zeichnen.
Ich drehe mich um und sehe meinen Betreuer an. »Ich habe mein Buch vergessen«, sage ich – ich habe es absichtlich in meinem Spind liegen lassen. »Wäre es möglich, dass du es schnell für mich holst? Ich will nicht zu spät kommen.«
Ich gehe zielstrebig zu meinem Platz ganz vorn, bleibe dort stehen, als wollte ich Kevin darauf aufmerksam machen, dass er bereits dafür gesorgt hat, dass ich nicht zu viel Gesellschaft bekomme.
Er nickt und geht. Doch kaum ist er verschwunden, marschiere ich hinüber zu James.
Er blickt nicht auf, sondern schattiert weiter das Bild einer Person mit langen, lockigen Haaren, das er in seinen Block gezeichnet hat.
Ich ziehe das Foto von ihm und Brady aus meiner Tasche, knalle es ihm auf das Blatt und sehe, wie er zusammenzuckt.
Er lehnt sich zurück, schaut zu mir hoch. »Was soll das?«
»Woher kennst du meinen Bruder?«, will ich wissen und tippe mit dem Finger auf das Foto.
Verwirrung spiegelt sich in seinen blauen Augen, und als er dann das Foto von sich und Brady genauer betrachtet, wird er sichtlich blass.
»Ich habe das nie zuvor gesehen«, behauptet er.
»Und meinen Bruder?«
James schluckt. »Ich kenne ihn nicht.«
»Warum seid ihr dann am Fluss zusammen? Warum hast du deinen Arm um seine Schultern gelegt? Mein Gott, warst du mit ihm befreundet?«
James betrachtet das Foto weiterhin, dann gibt er es mir zurück, reibt sich mit beiden Händen heftig durchs Gesicht. »Setz dich hin, bevor dein Betreuer zurückkommt«, sagt er ausdruckslos.
»Ich muss wissen, ob du …«
»Später«, fährt er mich an. »Verschwinde jetzt.« Seine Miene ist verschlossen, und ich weiß, dass er mir jetzt nichts mehr erzählen wird.
Unsere Lehrerin betritt den Raum, und ich stopfe das Foto in meine Tasche, eile nach vorn, verärgert, dass ich auf meine Antworten noch warten muss.
Gerade, als ich auf den Stuhl gleite, kehrt Kevin zurück und legt das Buch auf mein Pult. Dann geht er nach hinten, auf seinen Beobachtungsposten, um darüber zu wachen, dass niemand mich belästigt.
Doch es kommt mir so vor, als habe ich bereits begonnen, das Rätsel zu entwirren.
Ich habe Lacey nichts von dem Foto erzählt, weil ich zuerst James damit konfrontieren wollte. Könnte das der eigentliche Grund dafür sein, weshalb James mit mir geredet hat? Hatte er etwas mit dem Tod meines Bruders zu tun? Ich fühle mich getäuscht, obwohl ich mir nicht sicher bin, dass ich das Recht habe, mich so zu fühlen – nicht, wenn James die Antwort auch nicht kennt.
Andererseits – und das ist viel wichtiger – habe ich das Gefühl, ich könnte einen Teil meines Bruders zurückgewinnen. James muss dafür nur die Lücken in meinem Gedächtnis auffüllen.
Ich esse kaum etwas und nicke an den richtigen Stellen, während Lacey redet. Ich warte darauf, dass James seinen Platz in der Cafeteria einnimmt, doch auch diesmal kommt er nicht zum Mittagessen. Ich würde am liebsten schreien und hinauslaufen und nach ihm suchen.
Ich sehe zu Kevin hin, der sich mit einem Lehrer unterhält, und hole mein Handy heraus. Ich scrolle die Nachrichten herunter, bis ich zur letzten komme, die von James eingegangen ist.
ICH WILL REDEN. JETZT , schreibe ich und drücke auf »Senden«.
Unwillkürlich halte ich den Atem an. Dann lege ich mein Handy auf den Tisch und warte auf James’ Antwort. Ich schaue auf die Uhr und sehe, dass nur noch zehn Minuten Mittagspause bleiben. Meine Finger zittern. Das Handy vibriert, und als ich danach greife, werfe ich fast meine Diät-Cola um.
»Heilige Hölle, Sloane«, sagt Lacey. »Ist alles mit dir in Ordnung?«
»Ja«, erwidere ich und lese die Nachricht.
IM KELLER. BEIM VORRATSRAUM .
Na toll. Das hört sich wirklich nach einer fantastischen Idee an. Ich frage mich, ob er erwischt werden will . Dann sehe ich wieder verstohlen zu Kevin hinüber.
»Was ist los?«, fragt Lacey ernst und beugt sich zu mir vor. »Du planst
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