Du. Wirst. Vergessen.: Roman (German Edition)
Aufenthaltsraum ein lebhaftes Kartenspiel im Gang ist. Neue Leute haben unseren Platz eingenommen.
Als wir unten den Rasen betreten, sehe ich, dass der Volvo meines Vaters nahe beim Tor steht. Dad steigt aus, meine Mutter beeilt sich, an seine Seite zu kommen. Ich bleibe stehen, sehe aus der Entfernung zu ihnen hinüber.
»Viel Glück, Sloane«, sagt Schwester Kell und streicht mir das Haar hinters Ohr. »Und bleib gesund.«
Ich nicke ihr zu und schaue dann zu dem Betreuer hin, der mir sagt, dass ich gehen soll. Und dann renne ich über das Gras. Als ich schon ziemlich nahe bei ihnen bin, stürmt auch mein Vater los, umfängt mich mit seinen Armen und hebt mich hoch. Tränen strömen ihm übers Gesicht. Und dann umarmt Mutter uns beide, und wir heulen alle drei.
Ich habe sie vermisst. Habe das Lächeln meines Vaters und das Lachen meiner Mutter vermisst.
»Dad«, sage ich, als ich mich endlich von ihm lösen kann, »das Wichtigste kommt zuerst: Lass uns irgendwo Eiscreme holen. In all der Zeit hier habe ich keine bekommen.«
Er lacht, doch es klingt irgendwie schmerzlich, als habe er sehr, sehr lange darauf warten müssen, wieder lachen zu können. »Alles, was du willst, mein Schatz. Wir sind so glücklich, dich wieder bei uns zu haben.«
Meine Mutter berührt bewundernd mein Haar. »Ich mag das«, sagt sie so ernst, als habe sie mich seit Jahren nicht gesehen. »Du schaust sehr hübsch aus.«
»Danke, Mom.« Ich drücke sie erneut.
Mein Vater nimmt dem Betreuer die Reisetasche ab, und während er sie in den Kofferraum legt, drehe ich mich noch einmal um, um einen Blick zurück auf das Gebäude zu werfen – zurück auf »Das Programm«.
Irgendetwas zieht meine Aufmerksamkeit an, und mein Lächeln verblasst. An einem der Fenster sitzt ein Mädchen, die Arme um die hochgezogenen Knie geschlungen. Sie ist hübsch und blond, und sie wirkt so einsam. Verzweifelt. Und unwillkürlich erinnert sie mich an mich selbst.
»So, es geht los«, sagt mein Vater und öffnet die hintere Tür für mich. Ich wende meinen Blick von dem Fenster ab und steige ins Auto, und der Geruch erinnert mich an jene Zeiten, als Brady und ich uns immer darum gestritten haben, welchen Radiosender wir hörten.
Mein Bruder ist nun nicht mehr bei uns, aber wir haben unseren Frieden damit gemacht. Unsere Familie hat es überstanden, und nun geht es uns allen besser. Mir geht es besser.
Meine Eltern steigen ebenfalls in den Wagen, dann sehen sie sich nach mir um, als fürchteten sie, dass ich jeden Moment wieder verschwinden könnte.
Ich lächele. Ich fahre nach Hause.
Teil III
ICH WÜNSCHTE, DU WÄRST NICHT HIER
1. Kapitel
Ich schlafe nicht besonders gut in jener ersten Nacht zu Hause. Das Haus ist zu ruhig, die Geräusche in meinem Kopf sind zu laut. Ich vermisse Realm, vermisse es, mit den Jungs Karten zu spielen. Ich vermisse die kleinen Freiheiten und die Einschränkungen in der Anstalt. Auf eine eigenartige Weise war ich dort zum ersten Mal auf mich allein gestellt.
Nachdem wir angehalten und Eiscreme gegessen hatten und wieder zu Hause waren, hat meine Mutter ein aufwendiges Essen gekocht und mir im Plauderton erzählt, was alles in der Zwischenzeit passiert ist. »Das Programm« ist in drei weiteren Staaten eingeführt worden, Frankreich und Deutschland haben nun ihre eigene Version davon.
Ich war mir nicht sicher, wie ich darauf reagieren sollte, und so habe ich nichts dazu gesagt.
Kaum wache ich am nächsten Morgen auf, wartet Mutter bereits mit der kleinen weißen Pille, die Dr. Warren mir verordnet hat, damit ich den Tag gut überstehe und entspannt bin. Während ich am Küchentisch sitze, wendet Mutter die Pfannkuchen und summt dabei ein Lied, das ich nicht recht einordnen kann. Mein Vater ist bereits zur Arbeit gefahren. Ich sitze an dem kleinen runden Tisch und starre auf den leeren Stuhl, den mein Bruder als seinen Platz beansprucht hat. Mir kommt es fast so vor, als würde er gleich in die Küche stürmen und nach seinen Lucky Charms fragen, seinen Lieblings-Cerealien.
Aber Brady ist tot. Dr. Warren hat mir erzählt, dass sein Unfalltod ein Trauma bei mir ausgelöst hat, sodass sie die Erinnerung entfernen mussten. Und jetzt weiß ich nicht einmal mehr, was mit meinem Bruder passiert ist. Es ist, als befindet er sich in meinem Kopf und ist dann plötzlich weg, und dazwischen ist nichts.
Gegen Ende meiner Behandlung im »Programm« hat Dr. Warren mir dabei geholfen, meine Erinnerungen in die richtige Abfolge zu
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