Du. Wirst. Vergessen.: Roman (German Edition)
kalt sie ist. Er stößt mit seiner Schulter an meine, und wir gehen ein Stück weiter.
»Tabitha wird am Montag entlassen«, erzähle ich ihm. »Sie hat ihren neuen Haarschnitt und ein paar neue Kla motten. Shep haben sie ebenfalls einen neuen Stil verpasst – und hoffentlich auch ein Deo.« Ich blicke Realm von der Seite her an und lasse seine Hand wieder los. »Wieso haben sie bei dir nichts verändert?«
»Vielleicht gibt es an mir nichts zu verbessern.«
Ich lache. »Na ja. Dr. Warren meint jedenfalls, dass es die Rückkehr leichter macht, wenn man unser Aussehen vorher ein wenig aufpeppt. Ich denke, sie könnte recht haben. Ich habe mir überlegt, dass ich mein Haar glätten könnte.«
Realm greift plötzlich in meine Locken. »Nein«, widerspricht er heftig, »dein Haar ist so schön.« Dann zuckt er mit den Schultern. »Du bist schön.«
Ich werde rot und trete einen Schritt zurück, und mein Haar fällt aus seiner Hand.
Realm kickt einen Kieselstein aus dem Weg. »Sloane, wenn alles anders wäre, wenn wir nicht im ›Programm‹ wären … Was meinst du, könnten wir dann zusammen sein?«
Meine Haut prickelt plötzlich. Ich weiß nicht, ob ich eine Antwort darauf habe.
Realm tritt näher, legt seine Hände auf meine bloßen Oberarme. »Wenn du herauskommst, wäre ich für dich da, wenn du willst. Ich könnte auf dich aufpassen.«
»Ich will nicht, dass irgendjemand auf mich aufpasst«, antworte ich. »Ich will herausfinden, wie ich selbst auf mich aufpassen kann. Ich weiß ja nicht einmal mehr, wer ich überhaupt bin.«
»Ich weiß, wer du bist«, entgegnet er. Es klingt so düster. »Und ich würde alles für dich tun, auch wenn du im Moment noch nicht verstehen kannst, wieso.« Er schaut mich lange an, versucht offensichtlich herauszufinden, ob ich mehr für ihn empfinde als nur Freundschaft.
Ich frage mich unwillkürlich, woher ich wissen soll, ob ich verliebt bin, wenn ich doch überhaupt keine Ahnung habe, wie sich Liebe anfühlt. Oder habe ich schon einmal jemanden geliebt? Und ist meine Liebe erwidert worden?
»Wenn du mich suchst, Sloane«, sagt Realm, »dann warte ich auf dich.«
Die Kehle wird mir plötzlich ganz eng, und ich schmiege mich in seine Umarmung, schließe die Augen ganz fest. »Danke für alles, Realm. Danke für …«
»Michael!«, ruft eine Stimme, und wir gehen auseinander.
Schwester Kell, die auf der anderen Seite des Rasens neben einer blonden Frau mit dunkler Sonnenbrille steht, winkt ihm zu.
Ich spüre, wie Realm erstarrt, seine Hände fallen herab. Er sieht mich noch einmal an und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. Dann flüstert er dicht an meinem Ohr: »Sie werden dich immer ganz genau im Blick halten. Ausschau nach den Anzeichen halten.«
»Welche Anzeichen?« Plötzlich durchströmt mich Furcht.
»Ich werde dir auf jede nur mögliche Art und Weise helfen«, fügt er hinzu. »Vergiss das nicht.«
Ich denke, dass es ganz schön verrückt ist, so was zu jemandem zu sagen, der im »Programm« ist: Vergiss das nicht . Ebendeshalb sind wir doch hier. Durchs Vergessen werden wir geheilt.
Tränen laufen mir über die Wangen, während Realm langsam zurückweicht. Er sieht so hilflos aus. Als er sich schließlich umwendet, knirschen seine Schuhe auf dem Kies. Ich schaue ihm hinterher, als er aus dem »Programm« geht. Und aus meinem Leben.
Eine gute Woche später sitze ich in Dr. Warrens Büro. Mein Haar ist geschnitten und geglättet.
Die Ärztin lächelt mich an. »Fantastisch siehst du aus, Sloane«, sagt sie. »Du warst wirklich eine Musterpatientin.«
Ich nicke, als ob ich ihr danken wollte, aber in Wirklichkeit erinnere ich mich nicht mehr an die Therapiesitzungen, außer an einige wenige jetzt am Schluss. Wir haben diese letzten Sitzungen damit verbracht, meine Erinnerungen neu zusammenzusetzen. Sie hat mir erklärt, in welcher Reihenfolge sich was abgespielt hat, denn in meinem Kopf purzelt das alles manchmal noch durcheinander. Sie hat die Lücken aufgefüllt, die durch das entstanden sind, was ich vergessen habe. Zum Beispiel, was meine Familie betrifft.
»Es wird dich freuen zu hören, dass ›Das Programm‹ eine hundertprozentige Überlebensrate bewirkt und nur sehr wenige unserer Patienten jemals einen Rückfall erleiden. Dennoch treffen wir bestimmte Vorkehrungen. Im ersten Monat musst du dich wöchentlich ärztlichen Untersuchungen unterziehen, danach zweimal im Monat, bis nach drei Monaten die Abschlussuntersuchungen erfolgen. Du kannst
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