Du. Wirst. Vergessen.: Roman (German Edition)
irgendwann mal einer von uns an etwas erinnern wird, und dann wird das ganze System zusammenbrechen. Ich bin eben eine Anarchistin, wenn du so willst.«
Sie grinst mich an, und ich mag sie jetzt schon. Sie ist so lebendig. Ich kann die Lebenslust spüren, die sie ausströmt.
Lacey schaut kurz zu meinem Betreuer hin. »Sie hören schon bald auf, dir auf Schritt und Tritt zu folgen«, erzählt sie und deutet mit dem Kopf auf Kevin. »Solange du keinen Mist baust.«
»Mist bauen?« Mir war bis jetzt gar nicht in den Sinn gekommen, dass ich »Mist bauen« könnte, und ich habe auch keine Ahnung, was sie darunter versteht. Ich bin schließlich geheilt. Dennoch lehne ich mich vor, um mehr zu erfahren, denn Lacey war im »Programm« und hat ihre Rückkehr offenbar erfolgreich bewältigt. Vielleicht weiß sie etwas, was ich nicht weiß.
»Ich bin jetzt seit fünfzehn Wochen wieder hier.« Sie senkt die Stimme und streicht sich eine blonde Haarsträhne hinters Ohr. »Und ich vermisse immer noch all das, was ›Das Programm‹ mir weggenommen hat. Anfangs war mir das egal. Ich war einfach nur froh, dass ich überlebt habe. Aber inzwischen … inzwischen grübele ich über alles Mögliche nach. Stell dir vor, sie haben behauptet, ich hätte mir das Leben nehmen wollen.« Sie flüstert und hört sich ganz so an, als hätte sie sich danach gesehnt, das endlich einmal jemandem anvertrauen zu können. »Ich kann mir das überhaupt nicht vorstellen. Ich … ich bin der ausgeglichenste Mensch, den ich kenne. Haben sie dir auch gesagt, dass du versucht hast, dich umzubringen?«
Ich halte ihr mein Handgelenk hin. Die schmale Narbe ist immer noch zu erkennen. »Sie haben mir erzählt, dass ich das gewesen bin.«
»Wow!«
Wir schweigen beide für einen Moment, lassen die Geheimnisse sacken, die wir uns anvertraut haben.
Dann schiebt mir Lacey einen der Cupcakes hin. »Tipp Nummer eins«, sagt sie und beißt ein Stück von ihrem ab. »Bring dir dein eigenes Mittagessen mit. Ich bin ziemlich sicher, dass sie uns Beruhigungsmittel ins Essen geben.«
Laceys Verdacht reißt mich aus meinem angenehmen Dahindämmern, und ich wünsche, ich hätte die weiße Pille am Morgen nicht genommen. Ich hätte gern einen klaren Kopf – klar genug, um zu entscheiden, ob sie einfach nur paranoid ist.
Doch erst einmal konzentriere ich mich auf den Orangen-Cupcake, breche ihn auseinander, damit ich als Erstes die Creme herauslecken kann. Und dann genießen wir den Rest der Mittagspause, vertreiben uns die Zeit mit unverfänglichen Unterhaltungen über Lehrer und Musik.
Es klingelt, und Lacey sammelt sämtliche Verpackungen ein, stopft sie in die Tüte. Ich habe das Essen auf meinem Tablett nicht angerührt, doch ich bin satt. Als Kevin sich von der Wand abstößt und auf mich zukommt, grinst Lacey mich an.
»Bring ihn dazu, dass er dich heute Abend ins Wellness Center fährt«, flüstert sie. »Wir können uns dort treffen, wenn du willst.«
»Wirklich?« Ein Lächeln drängt sich auf meine Lippen und will gar nicht mehr verschwinden. Ich habe eine Freundin gefunden, und irgendwie hebt das mein Selbstwertgefühl. Es ist etwas so Normales.
»Sieben Uhr.«
»Entschuldigung«, sagt Kevin, als er an unseren Tisch tritt. »Wir müssen gehen, Sloane.« Er nimmt das Tablett auf, das vor mir steht, und wirft mir einen missbilligenden Blick zu, als er sieht, dass ich mein Essen nicht angerührt habe. Eine Hand unter meinen Ellbogen geschoben, hilft er mir sanft beim Aufstehen. »Miss Klamath«, fügt er dann an Lacey gewandt hinzu.
Sie spitzt die Lippen und winkt ihm zu, und grinsend schüttelt er den Kopf, als sei er an ihre Mätzchen gewöhnt. Bevor ich mich überhaupt von ihr verabschieden kann, schwebt sie schon aus der Cafeteria und aus meiner Sicht.
Als sie fort ist, nimmt Kevin seine Hand von meinem Arm. »Ich bin froh, dass du dir Freunde suchst«, sagt er. »Freundschaften sind gut für deine Genesung.«
»Was hat es mit dem Wellness Center auf sich?«, will ich wissen. »Kann ich heute Abend dort hingehen?«
»Das Wellness Center wurde vom ›Programm‹ als Teil der Nachsorge eingerichtet, als ein Ort, an dem du Kontakt zu anderen aufnehmen kannst, auch zu Nicht-Rückkehrern, in einer sicheren, überwachten Umgebung. Ich habe nichts dagegen, wenn du dich dort mal umschauen möchtest. Wir müssen nur aufpassen, dass du dir nicht zu viel auf einmal zumutest. Zu viele neue Reize könnten dem Heilungsprozess abträglich sein. Apropos
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