Dubliner (German Edition)
zwei vorstehende Schneidezähne. Lenehan lüftete im Vorbeigehen seine Mütze, und nach etwa zehn Sekunden grüßte Corley zurück in die Luft. Er tat das, indem er eine unbestimmte Handbewegung machte und gedankenverloren seinen Hut ein wenig verschob.
Lenehan ging bis zum Shelbourne Hotel, und dort blieb er stehen und wartete. Nach einer Weile sah er sie auf sich zukommen, und als sie nach rechts abbogen, folgte er ihnen mit leichten Schritten in seinen weißen Schuhen an einer Seite des Merrion Square entlang. Während er langsam weiterging und sich dabei ihren Schritten anpasste, beobachtete er Corleys Kopf, der sich alle paar Augenblicke dem Gesicht der jungen Frau zuwandte wie eine große Kugel auf einem Drehzapfen. Er behielt das Paar im Auge, bis sie in die Straßenbahn nach Donnybrook stiegen, dann machte er kehrt und ging den Weg zurück, den er gekommen war.
Jetzt, da er allein war, wirkte sein Gesicht älter. Seine Munterkeit schien ihn zu verlassen, und als er den Gitterzaun an Duke’s Lawn erreichte, ließ er eine Hand an den Stäben entlanggleiten. Das Lied, das der Harfenspieler gespielt hatte, begann seine Bewegungen zu bestimmen. Seine weich besohlten Füße spielten die Melodie, während seine Finger nach jedem Takt am Gitter gleichgültig eine Reihe von Variationen griffen.
Ziellos umrundete er Stephen’s Green und ging dann die Grafton Street hinunter. Obwohl seine Augen viele Einzelheiten in der Menge, durch die er ging, wahrnahmen, taten sie das ohne Anteilnahme. Er fand alles banal, was ihn hättebezaubern sollen, und er reagierte nicht auf die Seitenblicke, die ihn aufforderten, forsch zu sein. Er wusste, dass man von ihm erwarten würde, viel zu reden, amüsant zu sein und voller Einfälle, aber Mund und Hirn waren dafür zu ausgetrocknet. Die Frage, wie er die Stunden verbringen sollte, bis er Corley wiedertraf, machte ihm ein wenig zu schaffen. Ihm fiel keine andere Möglichkeit ein als weiterzugehen. Als er an die Ecke Rutland Square kam, bog er nach links ab, und in der stillen dunklen Straße, deren Düsterkeit zu seiner Stimmung passte, fühlte er sich wohler. Schließlich blieb er vor dem Schaufenster eines schäbig aussehenden Lokals stehen, über dem in weißen Druckbuchstaben die Worte Imbiss-Stube zu lesen waren. Auf der Glasscheibe stand in Krakelschrift Ginger Beer und Ginger Ale * . Auf einer großen blauen Platte lag ein angeschnittener Schinken, und auf einem Teller daneben ein Stück sehr leichter Plum-Pudding. Eine Zeit lang betrachtete er diese Dinge sehr aufmerksam, dann sah er vorsichtig nach links und rechts die Straße hinunter und betrat schnell das Lokal.
Er war hungrig, denn abgesehen von einigen Keksen, die er sich von zwei widerwilligen Kellnern hatte geben lassen, hatte er seit dem Frühstück nichts gegessen. Er setzte sich an einen rohen Holztisch, gegenüber von zwei jungen Arbeiterinnen und einem Monteur. Ein schlampiges Mädchen bediente ihn.
– Wieviel kostet ein Teller Erbsen?, fragte er.
– Drei halbe Pennys * , Sir, sagte das Mädchen.
– Bring mir einen Teller Erbsen, sagte er, und eine Flasche Ginger Beer.
Er sagte das brüsk, um über seine bürgerliche Erscheinung hinwegzutäuschen, denn bei seinem Eintreten war das Gespräch verstummt. Sein Gesicht war gerötet. Um ungezwungen zu wirken, schob er seine Mütze aus der Stirn und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Der Monteur unddie Arbeiterinnen musterten ihn eingehend, bevor sie ihre Unterhaltung in einem gedämpften Ton fortsetzten. Das Mädchen brachte ihm einen Teller heiße, mit Pfeffer und Essig gewürzte Erbsen aus der Konservendose, eine Gabel und sein Ginger Beer. Er aß gierig, und es schmeckte ihm so gut, dass er beschloss, sich dieses Lokal zu merken. Als er seine Erbsen aufgegessen hatte, saß er eine Weile da, nippte an seinem Ginger Beer und dachte über Corleys Abenteuer nach. Er stellte sich vor, wie das Liebespaar eine dunkle Straße entlangging; er hörte Corleys tiefe, kraftvolle Stimme galante Dinge sagen und sah wieder das herausfordernde Lächeln auf den Lippen der jungen Frau. Bei diesen Vorstellungen wurde ihm seine materielle und geistige Armut schmerzlich bewusst. Er war es müde, sich treiben zu lassen, von der Hand in den Mund zu leben, sich durchzuschwindeln und andern etwas vorzumachen. Er würde im November einunddreißig sein. Würde er nie eine richtige Arbeit finden? Würde er nie ein eigenes Zuhause haben? Er dachte, wie schön es wäre, an einem
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