Duddits - Dreamcatcher
höchsten und ungeschütztesten Stelle von Derry angelangt. Der Wind heulte gespenstisch, jagte mit einer Geschwindigkeit um die achtzig Stundenkilometer daher, in Böen auch hundertzehn, ja hundertdreißig. Im Fernlicht des Dodge flogen die Schneeflocken hier waagerecht wie ein Gewitter von Dolchen.
Mr. Gray saß reglos am Steuer. Jonesys Hände sanken vom Lenkrad, wie abgeschossene Vögel vom Himmel stürzen. Schließlich fragte er: »Wo ist er?«
Seine linke Hand hob sich, nestelte am Türgriff herum und bekam ihn schließlich auf. Er schwang ein Bein heraus und fiel auf Jonesys Knien in eine Schneewehe, als ihm der heulende Wind die Tür aus der Hand schlug. Er rappelte sich auf und kämpfte sich zur Vorderseite des Wagens, und seine Jacke und seine Hosenbeine flatterten wie Segel im Sturm. In diesem Wind lag die empfundene Temperatur jetzt sicherlich bei minus zwanzig Grad (im Büro der Gebrüder Tracker wurde es binnen Sekunden richtig kühl), aber das war der rotschwarzen Wolke, die jetzt einen Großteil von Jonesys Geist innehatte und Jonesys Körper steuerte, vollkommen egal.
»Wo ist er?«, schrie Mr. Gray dem heulenden Sturm entgegen. »Wo ist der WASSERTURM?«
Jonesy hingegen musste nicht schreien. Ob es nun stürmte oder nicht: Mr. Gray verstand ihn auch flüsternd.
»Ätsch-bätsch, Mr. Gray«, sagte er. »Har har har! Reingelegt! Der Wasserturm steht schon seit 1985 nicht mehr.«
6
Jonesy dachte, dass er an Mr. Grays Stelle jetzt einen richtig kleinkindhaften Wutanfall mit allen Schikanen hingelegt hätte, sich vielleicht sogar im Schnee herumgerollt und um sich getreten hätte; und obwohl er sich dagegen sträubte, schöpfte Mr. Gray ja auch voll aus Jonesys Gefühlsrepertoire und konnte, da er einmal damit angefangen hatte, ebenso wenig wieder damit aufhören wie ein Alkoholiker, der einen Nachschlüssel zu einer Kneipe sein Eigen nannte. Doch statt aus der Haut zu fahren und in die Luft zu gehen, stieß er Jonesys Körper quer über die kahle Hügelkuppe auf den klobigen Steinsockel zu, der dort stand, wo er den Speicher für das Trinkwasser der Stadt erwartet hatte – für zweieinhalb Millionen Liter Trinkwasser. Er fiel in den Schnee, quälte sich wieder hoch, humpelte, Jonesys invalide Hüfte belastend, weiter, fiel wieder hin und stand wieder auf, und die ganze Zeit über spie er Bibers Litanei kindischer Verwünschungen dem Sturm entgegen: Gekörnte Scheiße! Knutsch mir die Kimme! Leckomio! Karierte Kacke! Wenn das von Biber (oder Henry oder Pete) kam, war es immer lustig gewesen. Aber hier, auf diesem einsamen Hügel, von diesem immer wieder strauchelnden und hinfallenden Monster in Menschengestalt dem Sturmwind entgegengebrüllt, war es schrecklich.
Er oder es oder was Mr. Gray auch war, erreichte schließlich den Sockel, der im Scheinwerferlicht des Dodge gut zu sehen war. Er ragte in Kindergröße auf, gut ein Meter fünfzig, und war aus dem schlichten Felsgestein erbaut, aus dem in Neuengland viele Mauern bestanden. Oben drauf standen zwei Bronzefiguren, ein Junge und ein Mädchen, die Händchen hielten und den Kopf zum Gebet oder in Trauer gesenkt hatten.
Der Sockel war fast unter einer Schneewehe verschwunden, aber das obere Ende der Gedenktafel war noch zu sehen. Mr. Gray fiel auf Jonesys Knie, wischte mit Jonesys Händen den Schnee beiseite und las das Folgende:
DEN OPFERN DES ORKANS
VOM 31. MAI 1985
UND DEN KINDERN
ALLEN KINDERN
IN LIEBE VON BILL, BEN, BEV, EDDIE, RICHIE,
STAN, MIKE
DER KLUB DER VERLIERER
Und in krakeligen roten Sprühbuchstaben stand darüber, im Scheinwerferlicht des Dodge ebenfalls gut lesbar, diese Botschaft:
PENNY WISE LEBT
7
Mr. Gray kniete dort fast fünf Minuten lang, starrte die Tafel an und ignorierte dabei völlig die lähmende Kälte, die Jonesy in die Knochen kroch. (Und warum hätte er sich auch darum scheren sollen? Jonesy war ja einfach nur ein billiger Mietwagen, mit dem man durch jedes Schlagloch fuhr und auf dessen Fußmatten man seine Kippen austrat.) Er versuchte das zu verstehen. Orkan? Kinder? Versager? Wer oder was war Pennywise? Und vor allem: Wo war der Wasserturm geblieben, der Jonesys Erinnerungen nach hier stand?
Schließlich erhob er sich, humpelte zurück zum Wagen, stieg ein und drehte die Heizung auf. In dem warmen Luftstrom fing Jonesys ganzer Körper an zu schlottern. Im Handumdrehen stand Mr. Gray wieder an der verschlossenen Bürotür und verlangte eine Erklärung.
»Wieso bist du denn so wütend?«, fragte Jonesy
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