Dübell, Richard - Eine Messe für die Medici
lag am nächsten; ich beobachtete den Posten noch ein paar Sekunden, bevor ich meinen Mut zusammennahm und über die Gasse sprang, über die Reste der Mauer hüpfte und mich dann mit klopfendem Herzen rücklings an den aufrecht stehenden Teil der Ummauerung presste. Ich hörte keinen Alarmschrei: Er hatte mich überhaupt nicht gesehen. Ich entspannte mich und öffnete die Augen.
Der Garten stand voller alter Bäume, die einmal gepflegt gewesen waren und die man seit langem sich selbst überlassen hatte. Das Gras unter ihnen war knöchelhoch, vom Unwetter zerzaust und an den Stellen niedergedrückt, die sich ein Obdachloser oder auch ein Liebespaar aussuchen mochte, um sich dort niederzulassen. Ich wandte mich zu der Stelle um, durch die ich in den Garten eingedrungen war.
Ein unrasierter Mann stand auf der anderen Seite der Bresche und drückte sich ebenso gegen die Mauer wie ich.
Er starrte mich an. Er war bleich, aber ich brauchte nur in seine schreckgeweiteten Augen zu sehen, um zu wissen, dass ich ebenso bleich war. Im ersten Augenblick musste er mich für einen der Häscher gehalten haben; es blieb zu fragen, ob er mich, wenn ich aus Versehen auf seine Seite der Bresche geflohen wäre, nicht im ersten Schreck niedergestochen hätte. Ich konnte nicht erkennen, ob er ein Messer besaß, doch ich konnte für dieses Detail ohnehin kein Interesse aufbringen. Er war klein und wirkte rundlich, sein Haar war schütter und der Bart auf seiner Oberlippe wie ein dunkler Schmutzfleck. Ich starrte zurück, bis der Mann ein schiefes Grinsen zeigte und mit den Schultern zuckte. Ich fühlte, wie ich seine Geste nachahmte.
Er raunte etwas, das ich nicht verstand, und ich raunte zurück: »Ich verstehe kein Wort.« Er spitzte den Mund und legte einen Finger an die Lippen; dann spähte er vorsichtig auf die Gasse hinaus. Er hatte sich den besseren Platz ausgesucht; von seinem Versteck aus konnte man durch die Bresche bis zum Fondaco hinunter sehen. Alles, was ich sehen konnte, ohne den Kopf zu weit um die Mauer herum zu strecken, war ein Teil des Gassenabschnitts, über den ich gekommen war, und meinen Schicksalsgefährten, der kurzsichtig die Augen zusammenkniff und zu erkennen versuchte, was vor dem Fondaco vor sich ging.
Ich zischte, und er winkte ab. Nach ein paar Augenblicken zog er den Kopf zurück und spähte nachdenklich zu mir herüber. Schließlich machte er eine hastige Geste mit beiden Händen. Ich hob die Schultern, und er wiederholte seine Geste eindringlicher. Er wollte, dass ich auf seine Seite hinüberkam. Ich fasste mir ein Herz und machte einen weiten Bogen durch das hohe Gras. Er beobachtete die Straße und schien ebenso erleichtert wie ich, als ich bei ihm ankam. Ich überragte ihn um mindestens zwei Köpfe. Er rückte beiseite und machte eine einladende Geste. Ich presste mich gegen die Mauer und blickte hinaus.
Der Wachposten stand noch immer vor dem Tor des Fondaco und betrachtete das für mich unsichtbare Schauspiel der Bittstellerinnen. Seine Haltung hatte sich nicht geändert. Ich fühlte ein Zupfen an meinem Ärmel und zog meinen Kopf zurück. Mein Gefährte in der Not blickte zu mir nach oben und zuckte auffordernd mit den Schultern. Ich sah in seine fragenden Augen und erkannte, dass er viel zu kurzsichtig war, um erkennen zu können, was dort vorn vorging. Wie er überhaupt hier hereingekommen war, schien mir ein Rätsel – bis ich das Gras sah, das rings um seine Füße niedergetrampelt war. Er stand schon eine ganze Weile gegen die Mauer gedrückt; wahrscheinlich hatte er das Aufgebot gesehen, als es noch zum Fondaco marschierte, und war ihm rechtzeitig ausgewichen. Der Gedanke, wie lange er sich hier bereits verbarg und fragte, was draußen jenseits der kurzen Strecke vor sich ging, die er überblicken konnte, hatte etwas unfreiwillig Erheiterndes.
Ich schüttelte den Kopf, und er schüttelte ihn mit und machte eine resignierte Miene. Dann forderte er mich wieder auf, nach draußen zu blicken. Ich tat ihm den Gefallen.
Der Posten straffte sich plötzlich, und wenige Augenblicke später kam ein halbes Dutzend ähnlich gekleideter Männer aus dem Tor. Ferdinand Boehl trat hinter ihnen hervor und stellte sich breit in den Eingang. Selbst auf die Entfernung konnte ich erkennen, dass seine Haare zornig zu Berge standen. Er gestikulierte wild auf den Anführer der Bewaffneten ein. Dieser ignorierte ihn, aber die Art, wie er seine Männer mit einer Kopfbewegung zum Abrücken veranlasste und ihnen
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