Dübell, Richard - Eine Messe für die Medici
Fresken blätterten ab, gezahnte Gesimse wiesen Lücken auf, Bossenwerk war zerschrammt und ausgebrochen wie die Wetterseite eines alten Steinbruchs. Velluti bewegte sich durch die Gasse, ohne sich umzudrehen oder den Gebäuden seine Aufmerksamkeit zu schenken. Obwohl sich hier kein Mensch fortbewegte, machte er es uns leicht, ihm nachzugehen. Ich überlegte, ob ich Kleinschmidt nicht zurückschicken sollte, aber trotz seines ängstlichen Gesichts stellte er sich nicht ungeschickter an als ich; und ich brauchte ihn, sollte ich mit irgendjemandem sprechen müssen. Die Gasse mündete in einen Platz, auf dem viele Gassen aus allen Richtungen zusammentrafen und auf die Brücke führten, die ich gestern von weitem gesehen hatte und die so alt war, dass sie noch die längst überholten Läden sowie die Kapelle in ihrer Mitte trug. Die Läden waren Fleischerläden; sie waren geschlossen, aber der Blutgeruch des Tagesgeschäfts wusch sich nicht auf so kurze Zeit aus dem Holz, nicht einmal nach einem Regen wie gestern. Ganze Familien drängten zwischen den verrammelten Ladenfronten über die Brücke: Männer, Frauen und Kinder, zumeist begleitet von Gesinde. Nur die reicheren Bürger und Patrizier schienen sich hier ihrem unbekannten Ziel zuzubewegen. Armes Volk war nicht zu sehen, selbst die Bettler waren kaum vertreten. Als ich mich umdrehte, sah ich einen Mann mit einer Lederschürze die Brücke betreten; er wirkte mit seinem Arbeitsgewand und seinem dunklen, groben Gesicht trotz der Fleischerläden fehl am Platz. Die Mienen der Menschen waren voller Eifer. Ich hatte einen derartigen Eifer bereits gesehen: gestern, als der Leichnam Jacopo de’ Pazzis gesteinigt worden war.
Ein Gesicht wies diese fiebrige Vorfreude nicht auf: das Umberto Vellutis. Wo immer sein Weg ihn hinführte, er schien weder das Ziel noch den Eifer seiner Umgebung zu teilen. Sein Gesicht war angespannter denn je, seit er die Brücke betreten hatte. Von Ferne wirkte es unbeirrbar, wie er in der Mitte der Brücke dahinschritt und alle anderen zwang, ihm auszuweichen. Nur einmal änderte sich sein Vordringen. In der Mitte der Brücke war zwischen den Fleischerläden eine freie Stelle, in der die kleine Kapelle stand, und Velluti zögerte einen kleinen Moment und beschleunigte dann seine Schritte, bis er sie passiert hatte.
Am anderen Ufer angekommen, wandte sich der alte Architekt vom Hauptweg ab und betrat eine kleine Gasse gleich nach der Brücke. Wir – Velluti, der Verfolgte, und Kleinschmidt und ich, die Verfolger – passierten eine kleine, zwischen den Häusern eingezwängte Kirche, bei der sich Velluti bekreuzigte, überquerten die Gasse zum Palazzo della Signoria und fanden uns auf einmal in dem Gässchen wieder, das an der Rückseite des Palazzo und den dort angebrachten Löwenkäfigen vorbei direkt zum Bargello und zu der Ecke am Domplatz verlief, an der Vespuccis Haus stand. Die Gasse war stärker belebt als alle anderen vorher, und weiter oben, einige Dutzend Schritte nach dem Bargello, war sie vollkommen verstopft.
»Was tun die hier alle?«, sorgte sich Kleinschmidt. »Das sieht überhaupt nicht gut aus…«
Wir kamen bis hinter die Festung des capitano del popolo, bevor jedes weitere Vordringen in dieser Richtung endgültig unmöglich war. Vellutis weißer Haarkranz war weiter vorn auszumachen; er sah sich um, als suchte er nach einem Ausweg.
Sein Ziel schien irgendwo in der Nähe der Menschenansammlung zu liegen, denn es hätte genügend Seitengassen gegeben, über die er hätte ausweichen können. Ich begann, mich zu fragen, ob ich die ganze Situation nicht falsch eingeschätzt hatte und sein Ziel das Gleiche war wie das der vielen Florentiner um uns herum. Kleinschmidt, der kleiner war als ich und nicht über die Menge hinwegblicken konnte, hielt den Kopf gesenkt in der Hoffnung, dass niemand uns ansah oder auf uns aufmerksam wurde. Als sich plötzlich Beifall und Pfiffe erhoben, blickte er doch auf und sah mich fragend an. Ich zuckte mit den Schultern.
Wir standen direkt neben einer Familie, nicht unähnlich der, vor deren Haus wir auf Velluti gewartet hatten. Der Vater packte den kleinsten seiner Söhne und setzte ihn sich auf die Schultern. Die älteren Söhne machten sich an den Körben des Gesindes zu schaffen und packten den Inhalt aus: Obst. Ich sah näher hin und erkannte, dass das meiste davon verfault war.
Eine Gruppe von Leuten trat aus dem weit geöffneten Tor eines palazzo in einen Platz, der von den Zuschauern
Weitere Kostenlose Bücher