Duell auf offener Straße
Menschen erkennen die eigenen Strukturen und Prozesse in der Beziehung oft nicht, weil sie ein Teil des Systems sind, und können sie deshalb auch nicht verstehen. Wenn ich aber weiß, wo ich stehe, kann ich auch meinen Zielort bestimmen, ihn mir näher anschauen und den Weg dorthin planen. Dafür ist das Erstgespräch da. Das Wort sollte in diesem Fall nicht verwirren. Ein Erstgespräch kann in einem Treffen erfolgen, sich aber auch über mehrere Treffen erstrecken oder zwischen den Praxisstunden vonnöten sein.
Das Erstgespräch ist keine Befragung, sondern eine Beratung und dient der Selbstklärung des Menschen.
(Foto: Nadin Matthews)
Erziehungsberatung kann nahegehen
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Diagnostik heißt durchschauen/erkennen. Bis dies möglich ist, vergeht eine ganze Weile, vielleicht sogar die ganze Zeit der Beratung. Das Diagnostizieren ist das Bewusstwerden, Erkennen, Verstehen, Analysieren und Erklären bislang unbewusster und hintergründiger Motive des Handelns, Denkens und Fühlens. Ist dies geschehen, so kann das bislang störende Verhalten einer neuerlichen Entscheidung zugänglich gemacht werden. Es kann abgelegt, integriert oder verändert werden. Die Lösung eines Problems heißt nicht unbedingt, dass der Hund das Verhalten nicht mehr zeigt; vielleicht findet der Mensch nur einen anderen Umgang damit. Diesen Prozess können HundehalterInnen meist nicht allein in Gang setzen, weil individuelle und systemische Abwehrmechanismen und Widerstände eine derartige Bewusstwerdung verhindern. Beziehung und Erziehung können sehr intime Bereiche sein, weil sowohl das Beziehungs- als auch das Erziehungsverhalten auf eigenen Erfahrungen basiert. Damit sind sie meist schon vor langer Zeit gelernt und beinhalten die großen Themen des Lebens: Verlässlichkeit, Nähe, Distanz, Enttäuschung, Ängste, Verlust, Liebe, Vertrauen, Sicherheit und Schutz. Dieser Bereich ist bei Menschen in der Regel gut geschützt. Der Schutz der Abwehr kann zur Fessel der Erkenntnis werden und es ist oft schwer, diese allein zu durchbrechen. Diagnostik bedeutet daher nicht nur das richtige Erkennen des zugrunde liegenden Problems, sondern fußt vor allem auf dem Verständnis für Menschen und deren gewachsenen Verhaltensideen. Kann das die Aufgabe von HundetrainerInnen sein? Vielleicht sollte sie es werden. Weg vom Hundetraining hin zur Erziehungsberatung.
Hunde haben sich in unsere Häuser und dann in unsere Herzen geschlichen.
Ein Blick auf die Mensch-Hund-Beziehung ist daher sehr intim.
(Foto: Nadin Matthews)
Kommunikationsanalyse
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Um Veränderungen einzuleiten, ist es also wichtig, zunächst die „alten“ Strukturen aufzudecken. Welche emotionale Funktion hat der Hund für den Menschen? Welche Erwartungen hat der Mensch an seinen Hund? Welche Erwartung hat der Hund an seinen Menschen? Wie beeinflussen sie die Kommunikation und damit auch die Rollen? Welche Erziehungsgedanken und Kompetenzen hat der Mensch? Welche Strategien verfolgen Mensch und Hund in einem Konflikt?
Anhand der Fragen können Sie schon sehen, dass es nicht allein um den Hund und nicht allein um den Menschen, sondern um das Dazwischen geht. In der täglichen Kommunikation definieren Mensch und Hund ihr Selbstbild, das Bild vom anderen und das ihrer Beziehung. Es erwachsen daraus Strukturen und Rollen, die das Verhalten des anderen vorhersehbar machen. Das ist ein großer Vorteil, weil das Zusammenleben dadurch nun einschätzbar wird. Wenn es aber zu Schwierigkeiten in der Beziehung kommt, werden beide Seiten ein ihren Rollen entsprechendes Konfliktverhalten zeigen. Und das kann ein Nachteil sein, teilweise sogar eine Auflösung des Konflikts verhindern.
Rollen oder ein festgefahrenes System
In sozialen Gruppen etablieren Beziehungen feste Regeln und Muster in der gemeinsamen Kommunikation. Wenn Interaktionsmuster zu einstudierten Tanzliedern werden, die vorhersagbar sind, dann entwickeln sich daraus feste Rollen. Man kann also in bestimmten Situationen immer wieder dieselben Interaktionsmuster von Mensch und Hund beobachten. Das jeweilige Verhalten wird dadurch einschätzbar und man erwartet voneinander, dass sich alle wieder so verhalten werden. Zum Beispiel rechnet der Mensch da-mit, dass der Hund sich aggressiv verhält, und der Hund rechnet damit, dass der Mensch ihn davon abzuhalten versucht.
Rollen sind jedoch kontextspezifisch und können je nach Situation wechseln. Mensch und Hund können innerhalb einer Beziehung mehrere
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