Duell der Magier 01 - Unter den magischen Monden
reißen konnten; es handelte sich um die Haut des großen, finsteren Räubers der Meerestiefen, dessen Schuppen rasiermesserscharfe Kanten hatten. Er stolzierte mit so demonstrativer Eleganz, daß keiner sich mit ihm anlegen wollte. Mehrere Minuten, nachdem er vorübergegangen war, blieb die Straße leer, dann erst füllte sie sich wieder mit Menschen, die ein wenig zu laut redeten und lachten.
Serroi bewegte sich unbemerkt auf den Tempel zu – ein kleiner, schmutziger Junge wie zahllose andere Kinder – still und überschwenglich, ehrfurchtsvoll und gleichgültig –, die man nach Oras zum Fest der Mondensammlung mitgebracht hatte. Inmitten des Pilgerstroms machte sie einen Bogen an der PlazMauer entlang und sah den Tempel vor sich, der quer am Ende der breiten Allee stand. Sie hörte um sich her plötzliches Atemholen, ärgerliche Flüche und das Straucheln schnell laufender Beine; sie stolperte selbst, als sie die Versammlung neben dem Tempeltor sah. Schwarzgekleidete Anhänger der Flamme wiegten sich und sangen im Kreis um einen Sohn, der hoch über ihnen auf einem roh gezimmerten Podium stand; ihr Gesang kontrapunktierte seine herausgebrüllte Hetzrede gegen die Jungfrau, die er Hexe und Hure, Dämonin und Täuscherin schalt. Die Pilger bummelten wütend und unzufrieden – doch keiner wagte, sich diesem Affront gegen Brauch und Frömmigkeit entgegenzustellen. Unter der Wut schwangen Furcht und Unsicherheit mit, die Serroi mit schrecklicher Beredtheit sagten, wie mächtig die Söhne der Flamme und ihre Anhänger geworden waren.
Sie trat näher zu einer kleinen Familie, Mutter, Vater und drei Kinder und tat so, als gehörte sie dazu, als sie sich an den gaffenden Plaz-Wachen mit Armbinden, auf die die umkränzte Flamme sorgfältig aufgestickt war, vorbeischob, durch das Tor trat und den baumbeschatteten Weg zum Tempel selbst hinab-schritte Sie ließ vom Frieden innerhalb der Mauern ihre Verzweiflung und ihre Unruhe lindern, welche die Demonstration draußen bei ihr ausgelöst hatte.
Der Tempel, alt, aber immer noch unvollendet, war ein Wald von Säulen, von denen eine jede ein anderes und einzigartiges Bild der Jungfrau trug. Ungefähr jedes Jahr kam eine neue Säule dazu, wenn ein anderer Bildhauer und Spender oder eine Gruppe von Spendern eine neue Darstellung stifteten – aus Holz oder Stein, Keramik oder Mosaik, aus jedem Material außer kaltem Metall. Wohin Serroi auch blickte, sah sie Bilder der Jungfrau, streng oder sanftmütig, lachend oder schwebend oder herkömmlich barmherzig. Jeder Künstler hatte seine Vorstellung von der mächtigen Frauengestalt geschnitzt oder geformt. Irgendwo in diesem Wald von Säulen – es mußten nach der letzten Zählung tausend sein – konnte ein Pilger das Bild von ihr finden, das seiner eigenen inneren Vorstellung entsprach. Im Laufe ihrer Dienstzeit war Serroi bestimmt fünfzigmal hiergewesen; selbst jetzt, wo sie geistig so beansprucht war, reagierte sie auf die Schönheit und das Geheimnisvolle dieses Ortes. Da die Säulen nicht überdacht waren, sondern ein filigranes steinernes Gitterwerk, zeichnete die Morgensonne spitzenartige Schatten auf den Mosaikboden. Dicke Wände schirmten den Straßenlärm ab; sobald sie sich erst zwischen den Säulen bewegte, schien er für sie gar nicht mehr zu existieren.
Auch hier befanden sich viele Pilger, die ihre Gebetsketten sprachen oder in stiller Andacht vor der Jungfrau saßen. Ein paar wanderten zwischen den Säulen umher und suchten in den Hunderten von Abbildern dasjenige, das sie ansprach. Die Menge auf der Straße hatte den kleinen Jungen nicht beachtet; hier in Dunkelheit und Stille wurde Serroi noch weniger wahrgenommen. Sie schritt ruhig auf den Zentralhof zu, fühlte sich behindert durch das Böse, das sie mit sich trug, der Diskrepanz zwischen ihrer inneren Unruhe und der Heiligkeit des Ortes. Sie trat aus dem Schatten auf den Mosaikboden des Hofes. Der Springbrunnen in der Mitte ließ leise Musik für sie erklingen. Auf der gegenüberliegenden Seite der weiten, freien Fläche befanden sich die Tür und das Podium, wo die Tochter den Ritus der Mondensammlung vollziehen würde, bei dem auf ihren Gesang Tausende von Pilgern im Hof und dem gesamten Raum in dem Säulenwald antworten würden. An den Randsteinen der Fontäne zögerte sie einen Augenblick; sie müßte nur weitergehen, hinten nach rechts biegen und an der Mauer des Heiligtums entlang, bis sie zu einer kleinen, schlichten Tür käme – bis sie dort
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