Duell im Eis
»Mein lieber Wladimir Petrowitsch, es ist soweit! In einer Stunde erhalten Sie es schriftlich über Telex. Ist alles in Ordnung?«
»In bester Ordnung, Alexander Mironowitsch. Auf der ›Donjew‹« – das war der Name des Versorgungsschiffes – »sind alle Kisten an Bord, die Professor Kratjinzew und Professor Donkow zu uns transportieren ließen. Der Genosse Karasow wird mit U 27 fahren, die Genossin Berreskowa mit U 7. Das Kommando über die U-Boot-Flottille hat Kapitän Malenkow, wie angeordnet. Ich selbst werde auch mit U 7 fahren.«
»Sind die isolierten Fertighäuser endlich vollzählig bei Ihnen?«
»Und sind bewohnbar, Genosse Sujin«, antwortete Schesjekin vorsichtig. Über die übliche Schlamperei zu sprechen war müßig: Auch die Militärbürokraten sind nur Beamte, und einen Beamten zur schnellen Arbeit zu treiben gelang nicht einmal Gorbatschow. Geduld ist das erste Wort im Gebetbuch der Russen.
»Was fehlt?« fragte Sujin knapp. Schesjekins Antwort hinterließ auch bei ihm die gleichen Gedanken.
»Die Trafos für die Heizung. Was wir hier haben, genügt für Licht und Strom für die Baubrigade.«
»Und womit wollt ihr heizen?«
»Mit eisernen Einzelöfen. Alexander Mironowitsch, als junger Leutnant 1944 in den vereisten Wäldern bei Leningrad haben wir noch elender gelebt. Mein Minensucher war ein Eisklumpen, und wir gruben uns im Wald in die Erde und hockten um einen qualmenden, stinkenden, verrosteten Blechofen, den wir uns selbst gebaut hatten. Was kann mich erschüttern? Eisiger als damals kann es auch auf dem Eisberg nicht werden.«
»Verhaften lasse ich sie!« schrie Sujin empört. »Diese ganze Bande von Bürokraten! In ihre fetten Ärsche wird man sie treten! Wladimir Petrowitsch, es bleiben noch neun U-Boote auf Sachalin. Ich werde Ihnen eins mit allem fehlenden Material nachschicken. Das verspreche ich Ihnen.«
»Danke, Genosse Sujin.« Schesjekin hob den Blick an die Decke seines Zimmers. Versprechen und Handeln sind wie zwei Hosenbeine, von denen eines zugenäht ist. »Wir laufen also übermorgen aus.«
»Viel Glück, Wladimir Petrowitsch. Sie haben eine Jahrhundertaufgabe übernommen.«
»Wir alle hier wissen es. Wenn wir unsere Fahne ins Eis stecken, wie sollen wir den Eisberg taufen?«
»Morgenröte.«
»Nicht Michail?«
»Nein … Der Eisberg wird länger aktuell sein als der Genosse Generalsekretär. Eine Morgenröte wird es immer geben.«
Schesjekin legte nach einem Gruß auf. Plötzlich beneidete er Sujin nicht mehr, daß dieser in Moskau lebte und er auf dem verdammten Sachalin. Hier gab es keine Intrigen und Hintergrundkämpfe, hier war die Luft klar und rein, man atmete Kraft ein, und wenn etwas störte, dann waren es im verfluchten Winter die Wölfe, die bis an die Siedlungen schlichen und alles rissen, was sich bewegte. Manchmal sogar Menschen. Aber damit konnte man fertig werden … In Moskau dagegen atmete man vergiftete Luft und drückte Hände, die man am liebsten abhacken wollte.
In der Zeit des Wartens hatte sich bei der Berreskowa eine Wandlung ergeben. Sie entfloh der Langeweile auf ihre Art: Auf ihrem Kombiradio spielte sie Tonbänder mit Opernmusik ab, legte Platten mit Solistenkonzerten und Sinfonien auf, oder sie saß an einem kleinen Schreibtisch und schrieb Seite um Seite mit der Hand, in einer unleserlichen Schrift, die nur sie entziffern konnte.
Kapitän Malenkow, der die Zeit nach alter militärischer Tradition mit sturem Formal- und Exerzierdienst totschlug, kam ab und zu bei der Berreskowa vorbei, setzte sich brav in einen klapprigen Polstersessel und hörte schweigend zu, wenn sie die Oper ›Eugen Onegin‹ hörte, die ›Symphonie classique‹ von Prokofjew oder die ›Walküre‹ von Wagner. Dabei trank er ab und zu eine Flasche Krimwein oder 100 Gramm Wodka und rauchte eine Zigarette, deren Qualm die Berreskowa im Hals kratzte. Aber sie beschwerte sich nicht; sie trank Tee mit viel Zucker, knabberte Gebäck und genehmigte sich ab und zu ein Gläschen grusinischen Aprikosenlikörs.
Nur einmal fragte sie: »Warum sitzen Sie so stumm herum, Jurij Adamowitsch? Es stört mich, daß da jemand sitzt und schweigt. Es ist, als sitze man bei einem Sterbenden.«
»Was soll man sagen, Ljuba Alexandrowna, wenn Sie eintauchen in die Musik von Tschaikowski, Wagner oder Beethoven? So fern sind Sie dann, obwohl Sie neben mir sitzen. Meine Worte können dann nur dumm sein.«
»Wie recht Sie haben, Genosse Malenkow.«
»Sag' ich's doch. Darum
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