Duell: Island Krimi (German Edition)
Verschwörung. Ich weiß immer noch nicht, worum es eigentlich geht. Möglicherweise um Abhöraktionen aus politischen Gründen. Oder aber um einen Isländer, der in den Jahren der Weltwirtschaftskrise in Moskau lebte. Um einen Russen, der mit den allerhöchsten Parteispitzen durch die Welt reist. Und ein heimliches Treffen in einer ehemaligen Kriegsbaracke, die in ein Kino umgewandelt wurde. Einen Jungen, der anderen im Weg war und kurzerhand umgebracht wurde.«
»Wurde er erstochen?«
»Ja.«
»Es geht dir nahe.«
»So etwas ist immer schwierig. Vor allem wenn versucht wird, einen von dem abzulenken, worum es eigentlich geht, wenn versucht wird, den Fall zu einem politischen zu machen, heikel und mysteriös. Ich kann mich damit einfach nur äußerst schwer abfinden. Für mich sieht es im Augenblick so aus, als hätten einige Leute einfach aus den Augen verloren, worum es eigentlich geht, nämlich darum, dass ein unschuldiger Junge erstochen wurde. Ein Junge, der in seinem Leben schon sehr schwierige Zeiten durchgemacht hat. Es geht also nicht einfach nur darum, irgendeinen Fall zu lösen.«
»Und dann komme ich und störe dich.«
»Nein, ganz und gar nicht.«
»Ich weiß nicht, warum du eigentlich zur Polizei gegangen bist. Ich habe immer gedacht, du würdest so etwas wie eine wissenschaftliche Laufbahn einschlagen. Ich weiß nicht, warum, aber ich hatte immer das Gefühl, dass du so viel wusstest. Ganz abgesehen davon, an was du dich alles erinnern kannst. Du hast so ein phänomenales Gedächtnis.«
»Ich habe so ziemlich alles gelesen, was in den Regalen der Stadtbibliothek stand«, entgegnete Marian lächelnd. »Vielleicht wäre ich besser an diesem Arbeitsplatz geblieben. Aber ich lese immer noch.«
Sie lächelte ebenfalls.
»Es ist so schön, dass du wieder hier bist«, flüsterte Marian. »Ich denke so oft an dich, jeden Tag.«
»So geht es mir auch, Marian. Ich habe schon lange Sehnsucht nach dir gehabt.«
Sie rückte ein wenig näher und küsste Marian auf die Lippen. Sie hatte immer noch den Sommerblazer an, und Marian zog ihn ihr behutsam aus. Darunter trug sie eine weiße Bluse.
»Ich habe dich vermisst. So wie immer. Aber wenn ich gewusst hätte, dass du heute kommst, hätte ich etwas vorbereitet.«
»Ich wollte keine Vorbereitungen«, sagte sie. »Entschuldige, dass es so plötzlich ging. Ich wusste aber wirklich bis zur letzten Minute nicht, ob ich es schaffen würde. Ich habe diese Reise immer wieder aufgeschoben. Da ist nämlich etwas, über das ich mit dir reden möchte.«
»Was denn?«
»Damit hat es keine Eile.«
Marian küsste sie.
»Könnten wir ins Schlafzimmer gehen?«, fragte sie.
»Jetzt?«
»Ich … ich brauche dich so.«
»Komm«, sagte Marian, stand auf und ging mit ihr ins Schlafzimmer, schloss die Tür und setzte sich zu ihr auf die Bettkannte. Sie knöpfte sich die Bluse auf und öffnete ihren Büstenhalter. Marians Augen bot sich die Zerstörung dar, die eingefallene Körperhälfte und die lange Narbe, die von der Achsel fast bis zur Hüfte reichte.
»Habe ich dir nicht irgendwann einmal davon erzählt?«, flüsterte Marian, beugte sich über die Narbe und küsste sie sanft.
»Was denn?«
»Dass ich entsetzliche Träume hatte, in denen du aufgeben wolltest«, sagte Marian und legte den Kopf an die Stelle, an der die Rippen hätten sein sollen. »Dass du einfach auf den Fjord hinausgeschwommen bist.«
»Es stimmt, danach habe ich mich gesehnt«, sagte sie. »Ich habe es auch in Erwägung gezogen. Aber da diese Operation mir das Leben gerettet hat, wieso sollte ich dieses Geschenk nicht annehmen?«
Sechsunddreißig
Marian hatte all die Jahre seit ihrem gemeinsamen Aufenthalt im Sanatorium in Kolding Verbindung zu Katrín gehalten. In den ersten Jahren schrieben sie sich viele Briefe, und Marian konnte mitverfolgen, wie Katrín sich ganz langsam erholte und wieder gesund wurde. Doch ihr Leben war alles andere als einfach. Marian hatte ihr sehr viele tröstende Briefe geschrieben, wenn der Pessimismus und die Depressionen überhandnahmen.
Katrín kehrte nach dem Krieg zum ersten Mal nach Island zurück, da war sie fünfundzwanzig. Marian hatte zu der Zeit ein Zimmer in der Bragagata gemietet und sich um eine Stelle in der Stadtbibliothek beworben. Marian hatte Katrín von dem Zimmer berichtet, und eines Tages stand Katrín in einem beigefarbenen Mantel und einer hübschen Wollmütze auf dem Kopf plötzlich vor der Tür, ohne dass sie ihr Kommen angekündigt
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