Duell: Island Krimi (German Edition)
nicht weit vom Steven, stand ganz allein eine kleine Frau. Sie trug einen leichten gelbbraunen Sommerblazer und blickte hinüber zum Land, das in strahlenden Sonnenschein getaucht war. Ihre Blicke schweiften über das Bláfjöll-Massiv und über die Bergkette von Reykjanes bis zum Vulkan Keilir, der wie eine ägyptische Pyramide aus dem Lavafeld aufragte, das ihn umgab. In den Augen der Frau war Reykjavík viel größer geworden, als sie sich jemals hätte vorstellen können.
Marian versuchte, sie auszumachen, als sich die Gullfoss dem Kai näherte. Die Freundin war länger fortgeblieben, als sie vorgehabt hatte, und sie hatten nur über sporadische Briefe und Mitteilungen Kontakt gehalten. Bevor die Postkarte eingetroffen war, hatte Marian ein halbes Jahr lang nichts von ihr gehört, und dann das Telegramm, das völlig überraschend heute Morgen zugestellt worden war. Sie war eine Zeitlang in Afrika gewesen, von wo aus sie einen Brief geschickt hatte, geschrieben von irgendeiner Grenzstation aus, wo sie vor Hitze fast umgekommen war. Sie war allein unterwegs, hatte sich von ihren Mitarbeitern getrennt und sich einem Autokonvoi des Roten Kreuzes angeschlossen. Marian solle sich ihretwegen keine Sorgen machen, es bestehe keine Gefahr. Marian wusste, dass sie seit Langem im Auftrag einer Hilfsorganisation in Krisengebieten arbeitete und nicht selten unter sehr schwierigen Bedingungen reisen musste. Sie kümmerte sich um schwer verwundete Opfer kriegerischer Auseinandersetzungen, die Gliedmaße verloren hatten oder auf eine andere Weise entstellt waren, sie betreute und pflegte sie und stand ihnen bei. Weder in ihren Briefen noch in den kurzen Telefongesprächen beklagte sie sich. Marian hatte meistens keine Ahnung, wo sie sich befand.
Marian hätte sich gewünscht, dass sie zu einer anderen Zeit gekommen wäre. Die schwierige Ermittlung im Fall Ragnar forderte jede freie Stunde, und Marian fürchtete, nicht genügend Zeit für sie zu haben, obwohl sie keinerlei Ansprüche stellte. Auf Island war sie immer nur zu Gast, und sie kannte nur wenige Menschen. Ihr Zuhause war in Kopenhagen. Wenn sie kam, übernachtete sie jedes Mal bei Marian, und die alte Freundschaft lebte wieder auf.
Die Frau im Sommerblazer verschwand unter Deck, als die Gullfoss anlegte. Die Trossen wurden auf den Kai geworfen, und die Zollbeamten gingen an Bord. Bereits nach kurzer Zeit erschienen die ersten Passagiere mit Taschen und Koffern auf der Landebrücke und verließen das Schiff. Zehn Minuten vergingen, eine Viertelstunde, zwanzig Minuten, dann endlich erschien sie mit einem kleinen Koffer auf der Landebrücke und lächelte Marian zu. Sie war noch magerer geworden, die Farbe in ihrem Gesicht stammte ganz offensichtlich aus südlichen Regionen. Der Ausdruck in ihrem schmalen, von roten Haaren eingerahmten Gesicht war entschlossen.
»Wie schön, dass du wieder da bist«, sagte Marian, nahm sie in die Arme und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Gleichfalls, mein Herz«, sagte sie.
»Mein Auto steht da hinten«, sagte Marian. »Ist das dein ganzes Gepäck?«
»Ja«, sagte die Frau lächelnd, »das ist alles, was ich dabeihabe.«
»Ich bekam einen kleinen Schreck, als heute Morgen dein Telegramm eintraf. Ich dachte erst, es wäre etwas passiert.«
»Entschuldige. Hast du meine Karte nicht bekommen?«
»Doch, und ich habe mich sehr gefreut, dass du auf dem Weg nach Island warst.«
»Ich hatte eigentlich vor, mich früher mit dir in Verbindung zu setzen, aber irgendwie bin ich einfach nicht dazu gekommen. Ich hoffe, ich komme nicht furchtbar ungelegen.«
»Ganz und gar nicht«, sagte Marian. »Wie war die Überfahrt?«
»Wunderbar. Die ganze Zeit kein Seegang.«
»Diese Gullfoss ist natürlich besser als die alte.«
»Ich vermisse die alte trotzdem.«
»Das tun wohl nicht viele«, sagte Marian lächelnd, nahm den Koffer und bahnte ihnen einen Weg durch das Gedränge auf dem Kai.
»Wie groß Reykjavík geworden ist«, sagte die Frau, als sie sich ins Auto setzte. »Das war so deutlich zu sehen, als wir in den Hafen einliefen. Die Stadt dehnt sich ja schon ganz weit in die ländlichen Gebiete aus.«
»Ja«, sagte Marian und fuhr los. »Und immer noch zieht es die Menschen in die Stadt. Diese Entwicklung nimmt kein Ende, die Leute vom Land werden zu Stadtmenschen. Und wo bist du in den letzten vier Jahren gewesen?«
»Ist es wirklich schon so lange her?«
»Ja.«
»Überall und nirgends.«
Ȇberall herrschen grauenvolle
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