Duell: Island Krimi (German Edition)
bewirkte, dass Marian in der ersten Nacht nur wenig Schlaf fand.
Die Reise hatte fast eine Woche gedauert und war anstrengend gewesen. Das Schiff hieß Gullfoss und gehörte der isländischen Dampfschifffahrtsgesellschaft Eimskip , es transportierte Passagiere und Fracht von und nach Island. Während der Überfahrt war praktisch die ganze Zeit über schwere See gewesen, vor allem nach dem fahrplanmäßigen Zwischenstopp in Leith. Das Schiff stampfte und rollte ununterbrochen, und es gab kaum Passagiere, die nicht seekrank wurden, von früh bis spät würgten und sich übergeben mussten und nur noch den einen Wunsch verspürten, möglichst bald Land zu sehen. Marian mit nur einem gesunden Lungenflügel machte da keine Ausnahme.
Athanasius hatte ein junges Paar gebeten, ein Auge auf das Kind zu haben, damit es ihm auf der Überfahrt gut gehen würde. Nach dem Anlegen des Schiffs am Islandkai in Kopenhagen sollten sie dafür sorgen, dass Marian zum Hauptbahnhof kam und in den richtigen Zug gesetzt wurde. Ansonsten kannte Marian an Bord niemanden. Die beiden hatten Athanasius’ Bitte nicht abschlagen können, sie waren freundlich zu Marian, aber gleichzeitig waren sie auch sehr vorsichtig, da sie von der Krankheit wussten und sich davor fürchteten, angesteckt zu werden.
Marian schlief in einer Kabine der ersten Klasse, und die des Ehepaars befand sich auf demselben Gang nahe beim Speisesaal. Der Mann war groß und massig, er wurde nie seekrank und konnte deswegen unterwegs auch Unmengen verschlingen. Er rauchte viel und war einem guten Tropfen alles andere als abgeneigt. Er hielt sich meist im Rauchsalon oberhalb des Speisesaals auf und spielte dort Lomber und Bridge. Seine kleine, zierliche Frau war genauso zurückhaltend wie ihr Mann es genoss, andere zu unterhalten und im Mittelpunkt zu stehen. Sie erzählte Marian, dass ihr Mann ein ausgesprochener Nachtmensch war und erst gegen Morgen und in reichlich angetrunkenem Zustand in seine Koje kroch. Sie seien auf dem Weg nach Italien, wo er Gesangsunterricht nehmen wollte. Sie selbst träumte von einem Kunststudium, das man ihrer Meinung nach nirgendwo besser als in Italien absolvieren konnte.
»Sing Marian und mir doch etwas vor«, bat sie den Ehemann eines Tages, als die See ruhig war und die Sonne schien. Die Gullfoss näherte sich bereits dem Hafen in Kopenhagen, als der Mann an Deck kam, auf dem seine Frau und Marian saßen und sich sonnten.
»Du weißt ganz genau, Liebling, dass ich nicht auf Befehl singen kann!«, sagte er mit seiner dunklen Baritonstimme, die nach etlichen Lomber-Abenden im Rauchsalon reichlich rostig klang.
Das Paar verabschiedete sich von seinem Schützling, als Marian auf dem Hauptbahnhof in Kopenhagen einen Sitzplatz im richtigen Zug gefunden hatte. Zum Abschied gab es keine Küsse und kein Händeschütteln, nur alle guten Wünsche für eine baldige Besserung, und dann gingen die beiden. Sie hatten vor, noch ein paar Tage in Kopenhagen zu verbringen, bevor sie in den Süden reisten. Der Mann stiefelte mit großen Schritten vor seiner Frau her, wahrscheinlich dachte er an nichts anderes als an die nächste Gastwirtschaft. Seine freundliche Frau hielt sich hinter ihm und sehnte sich danach, sich endlich mit italienischer Malerei befassen zu können.
In dem Zug befanden sich noch andere Kinder mit demselben Ziel wie Marian. Wer nicht in Begleitung von Erwachsenen reiste, trug ein Schild mit der Angabe des Reiseziels an der Brust. Die Reise dauerte fast sechs Stunden. Der Zug hielt in Korsør auf Seeland, und von da aus ging es auf einer Fähre über den Großen Belt hinüber nach Nyborg auf Fünen. Dort bestieg Marian den nächsten Zug quer durch Fünen nach Middelfart, von wo aus eine weitere Fähre die Passagiere über den Kleinen Belt nach Fredericia in Jütland brachte. Als der Zug von Fredericia in Kolding hielt, mussten sich alle Kinder auf dem Bahnsteig versammeln. Eine Frau in Krankenschwesterntracht und ein schwarz gekleideter Mann kümmerten sich um die Gruppe und riefen alle Kinder mit Namen auf. Als der Zug sich wieder in Bewegung setzte, wurden die Kinder und die sie begleitenden Eltern zu einem Bus geführt, der sie an den Bestimmungsort brachte.
Bei Marian war auf der Überfahrt nach Dänemark die eingepumpte Luft vor der Lunge langsam entwichen. Als die Neuankömmlinge sich in der Eingangshalle des Sanatoriums versammelten, machte Marian eine Krankenschwester auf sich aufmerksam, die sofort begriff, was los war, und mit
Weitere Kostenlose Bücher