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Dünengrab

Dünengrab

Titel: Dünengrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Koch
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offenen Meer her blies und die Segel des Bootes wie Ballons aufblähte. Tjark trug eine dicke rote Jacke und darüber eine Schwimmweste. Seine Hände, die sich an der flachen Reling festkrallten, fühlten sich eisig an. In einer Tour klatschten kleine Wellen gegen den hölzernen Rumpf, der sich konstant auf und ab bewegte. Gelegentlich sprühte zerstäubte Gischt wie feiner Regen an Bord.
    Anfangs war ihm noch abwechselnd heiß und kalt gewesen. Der Blick aufs Wasser hatte ihm Schweißausbrüche und Gefühle der Beklemmung verursacht. Kaum hatte das Boot den Hafen verlassen, wollte er die Sache sogar abblasen und als die blödsinnige Idee abtun, sich seinen Ängsten mit der Holzhammer-Methode stellen zu wollen. Andererseits wusste er, dass Angst von der Vermeidung lebte und man ihr nur die Nahrung nehmen konnte, wenn man ihr die Grundlage entzog. Tjark hielt sich also vor Augen, dass es weitaus Schlimmeres gab als Salzwasser, zum Beispiel Krebs, und dass man jeden Tag etwas tun sollte, wovor man sich fürchtet. Davon abgesehen war dieser Ausflug notwendig, wenn er wissen wollte, ob der Mörder seine Opfer vom Meer aus zum Ablageort transportierte.
    Ruven hatte gerade etwas am Baum der Desire umgestellt, wo das Großsegel befestigt war. Dann kam er zurück, löste eine Befestigung am Pinnenausleger und hielt das Ruder wieder in der Hand. Kurz darauf vollzog die Desire eine scharfe Kurve und änderte die Fahrtrichtung. Tjark hatte nun einen guten Blick auf den gesamten Küstenstreifen und den Hafen.
    »Segeln ist nicht Ihr Ding, was?« Ruven grinste, setzte sich auf die Reling und zog den Reißverschluss der Jacke zu. Es war das gleiche Modell, das Tjark trug – Ruven hatte ihm eine gegeben mit der Bemerkung, dass eng geschnittene italienische Kalbslederjacken offshore eher nicht taugten.
    »Manche haben Flugangst«, presste Tjark hervor. »So ähnlich ist das bei mir mit dem Meer.«
    »Warum?«
    Tjark winkte ab. »Nicht der Rede wert.« Er hatte keine Lust, darüber zu reden. Er sprach so gut wie nie darüber. Auch so eine Sache, die seine Ex-Frau ihm immer wieder vorgeworfen hatte. Aber was auf dem Grund des Meeres ruhte, kam selten von selbst wieder nach oben, und das Meer war tief.
    »Viele Menschen haben Angst vor dem Meer«, sagte Ruven und zog einen Flachmann aus der Tasche. »Man weiß nie, was unter der Oberfläche schlummert und einen herabziehen könnte.«
    »Danke, genau das kann ich gerade brauchen«, sagte Tjark, verzog das Gesicht und hielt sich etwas fester.
    Ruven lachte und schraubte die Flasche auf. »Sie gehen offen damit um. Sich der Sache zu stellen und rauszufahren, finde ich beachtlich. Und Sie können wirklich unbesorgt sein – die Desire ist ein gutes Boot, und ich kenne die Nordsee wie meine eigene Badewanne.« Er reichte Tjark den Flachmann.
    »Sehr beruhigend.« Tjark löste die Rechte von der Reling, um die Flasche anzunehmen. Er setzte sie an und nahm einen kräftigen Schluck. Im nächsten Moment ergoss sich Lava in seinen Bauch. »Teufel«, sagte er, hustete und gab Ruven die Flasche zurück. Ruven nahm ebenfalls einen Schluck, bleckte die Zähne, schraubte den Flachmann wieder zu und ließ ihn in der Tasche verschwinden.
    »Smith & Cross Navy Strength Rum«, sagte Ruven. »57 Prozent.«
    »Man schmeckt jedes einzelne.«
    Tjark räusperte sich und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Dann nahm er das Fernglas zur Hand, das Ruven ihm zur Verfügung gestellt hatte. Das Marine-Fernglas mit rutschfester Gummiarmierung war wasserdicht und beschlagsfrei. Tjark setzte es an, fokussierte auf die Küste und versuchte, das Schwanken des Bootes nun mit reiner Muskelkraft auszugleichen. Er sah den Uferstreifen und seinen dichten Bewuchs klar und deutlich, glitt mit den Blicken daran entlang und suchte nach einem Orientierungspunkt. Er fand ihn in Form eines rotweißen Polizei-Absperrbands, das sich von der Befestigung gelöst hatte und wie der Schwanz eines Lenkdrachens im Wind flatterte.
    Tjark bewegte das Fernglas weiter nach links, schwenkte über den gleißend hellen Sandstrand mit seinen Dünen und fand die Einfahrt des Werlesieler Hafens, aus dem gerade zwei Kutter ausliefen. Hinter der Ausfahrt markierten dünne, in den schlammigen Boden des Watts gesteckte Birkenstämme die ausgebaggerte Fahrrinne. Andere sahen aus wie Hexenbesen. In beiden Fällen waren sie mit Reflektoren versehen, bezeichneten jeweils Backbord- und Steuerbordseiten und dienten der Orientierung, wie Ruven ihm

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