Duenenmond
furchtbar heiß. Armes Kerlchen! Sie kümmerte sich nicht um die belustigten Blicke der anderen Touristen, die sich in dem schmalen, lang gezogenen Raum drängten, und ließ das Plüschtier unter der Tischplatte hindurch zu dem Jungen tauchen. Der hatte zu weinen aufgehört und beobachtete den Seehund fasziniert. Als dieser wieder unter der Tischplatte verschwand, bückte er sich, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Jos Hand mit dem grauen abgewetzten Spielzeug segelte durch die Luft und von hinten zwischen zwei Bildbänden hindurch, die im Regal standen. Einer wäre beinahe aus dem Bord gefallen, doch Jokonnte gerade noch zupacken. Der Seehund lugte zwischen den Büchern hervor, guckte nach links, nach rechts und entdeckte dann den kleinen Jungen. Mit einem Looping schoss er aus dem Regal und direkt vor die Nase des lachenden Kindes. Jo ging das Herz auf. Ein guter Tag!
Die Mutter hatte das Spiel der Fremden mit ihrem Sohn ebenso ignoriert wie zuvor sein Geschrei. Nun bedankte sie sich bei der Mitarbeiterin des Tourismusbüros und zog den Kleinen hinter sich her nach draußen, ohne Jo auch nur eines Blickes zu würdigen. Sie zwinkerte dem Seehund verschwörerisch zu, legte ihn zurück auf seinen Platz und studierte die Faltblätter und Prospekte. Ihr blieb nur noch eine Woche, und sie hatte noch nicht viel von der Gegend gesehen. Das sollte sich ändern. Sie konnte einen Tagesausflug nach Rügen machen, mit dem berühmten Rasenden Roland fahren, einem Zug, der noch von einer Dampflokomotive gezogen wurde. Noch nie in ihrem Leben hatte sie einen dieser qualmenden Kolosse in Aktion gesehen, noch nie das typische Tuten gehört. Sofort fiel ihr Jan ein, der ein solches altes Ungetüm bestimmt liebte. Auch ein Besuch der kleinen Insel Hiddensee erschien ihr lohnend. Autos waren dort tabu, man bewegte sich mit Pferd und Planwagen, Fahrrad oder zu Fuß fort. Jo erschien so etwas wie die Beschreibung einer fremden Welt. Wenn Urlaub das Gegenteil des Alltags sein sollte, dann wären diese beiden Ausflüge bestens geeignet, um dem Alltag vollständig zu entfliehen. Dann waren da noch das Ozeaneum in Stralsund, unzählige Museen, Mal- und Töpferkurse, Konzerte und vieles mehr. Die Auswahl war schon beinahe zu groß.
Vielleicht sollte ich verlängern, dachte Jo übermütig. BeimVerlassen des Tourismusbüros fiel ihr Blick auf einen Zettel, der an die Eingangstür geklebt war.
Leiter/in für Marketing und Öffentlichkeitsarbeit gesucht, Teilzeit, Job-Sharing , stand da. Da konnten sie bestimmt lange suchen, jedenfalls wenn sie einen Profi haben wollten. Wer studierte schon Marktkommunikation oder Medien und Kommunikation, um dann in einem Nest ein paar Anzeigen zu texten? Gut, die tolle Landschaft, der Strand direkt vor der Haustür, das lockte womöglich den einen oder anderen Kollegen. Auszustehen hatte man sicher auch nicht viel. Teilzeit bedeutete zwar etwas weniger Geld, dafür aber erheblich mehr Freizeit. Insofern ließ sich vielleicht doch ein Profi von dem Angebot ködern, ein Berufsanfänger vielleicht. Jo konnte es herzlich gleichgültig sein.
Auf der Terrasse eines Cafés ließ sie sich nieder und bestellte einen Eiskaffee. Nach dem gestrigen Fastentag hatte sie Appetit. Schon das Frühstück war üppig ausgefallen, mit Pfannkuchen, einem Spiegelei und Speck. Sie vertiefte sich in die Broschüren, die sie mitgenommen hatte, und ordnete sie nach ihrem ganz persönlichen Ranking: 1. Unbedingt machen, 2. eventuell machen und 3. machen, wenn noch Zeit übrig ist.
Ihr fiel ein, dass sie ihrer Mutter versprochen hatte, sich zu melden. Nun war sie genau eine Woche weg, also fischte sie ihr Mobiltelefon aus der Tasche. Sie hatte zwei neue Nachrichten. Eine ehemalige Kollegin fragte, ob sie Lust habe, mit ins Kino zu gehen.
»Mist, jetzt fällt’s mir wieder ein, du bist im Urlaub. Hast du ja gesagt, hatte ich ganz vergessen. Na dann, nächstes Malwieder. Fröhliche Ferien noch«, tönte es etwas scheppernd aus dem Handy.
Der zweite Anruf war von ihrer Mutter. Jo wählte ihre Nummer. In der nächsten Sekunde war sie über den aktuellen Dorf-Klatsch informiert, der sie noch nie interessiert hatte. Ob sie wollte oder nicht, sie wurde in die Einzelheiten der Scheidung einer Nachbarstochter eingeweiht, die mit einer Paartherapie versucht hatte, ihre Ehe zu retten, nun aber doch den offenbar unvermeidlichen Schritt ging. Sie erfuhr von dem Fahrradunfall des alleinstehenden älteren Herrn, der am Ende der Straße
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