Düstermühle: Ein Münsterland-Krimi (German Edition)
da reingesteigert. Sie wurde immer trauriger und wehmütiger. Sie hat einfach nicht loslassen können. Dann kamen die Angstzustände, später die Depressionen. Es gab Tage, an denen sie das Bett nicht verlassen hat. Sie ist regelrecht abgetaucht in ihre Trauer. Und ich stand daneben und konnte nichts tun. Wir mussten ihren Bruder finden, das war für mich klar. Aber was wir auch machten, wir kamen nicht weiter. Schließlich baute sie gesundheitlich stark ab. Und sie verlor den Verstand. Es war wie ein Strudel, und von da an dauerte es nur ein halbes Jahr, bis sie starb. Sie hat alles getan, um glücklich zu werden in ihrem Erwachsenenleben, und am Ende ist sie tieftraurig gestorben.«
»Und doch war Jens Vogelsang bei Ihnen auf dem Hof«, sagte Keller. »Und nicht nur bei Ihnen. Er war auch bei Alfons Schulte-Stein, nicht wahr? Haben Sie Hannes Familie schließlich doch noch gefunden, trotz der wenigen Hinweise?«
»Nein. Hannes Familie hat uns gefunden.«
Keller warf Gratczek einen fragenden Blick zu. Der nickte unmerklich. Es stimmte. So weit hatte er seinem Kollegen noch gar nicht Bericht erstatten können.
»Wie war das denn möglich?«, fragte Keller.
»Hannes Bruder hatte sich ebenfalls auf die Suche gemacht. Oder vielmehr sein Sohn. Davon konnten wir natürlich nichts wissen. Hannes Bruder, der in Köln gelebt hatte, war ebenfalls schwer krank gewesen. Und auch er sehnte sich danach, seine Schwester wiederzusehen. Zu erfahren, was aus ihr geworden war. Also hat sein Sohn sich auf die Suche gemacht. Es hat sehr lange gedauert, und es war wohl auch sehr kompliziert, aber schließlich hatte er es geschafft. Er hat das Kinderheim in Osnabrück ausfindig gemacht, wo ein Kind namens Hanne Vonnesand gelebt hatte. Jens war nicht sicher, ob es sich dabei überhaupt um die Schwester seines Vaters handelte. Es hatte schon andere Fährten gegeben, die allerdings ins Nichts gelaufen waren. Diese hier führte ihn zu einem Hof ins Münsterland. Zu Schulte-Stein. Er ist dorthin gefahren, um mehr über diese Hanne Vonnesand zu erfahren. Aber Alfons hat ihn weggeschickt. Er hat ihm gegenüber behauptet, alles wäre ein Irrtum. Außerdem wäre diese Hanne, die gar nicht seine Tante sein konnte, bereits seit Jahren tot.«
»Das hat er gesagt?«, fragte Keller. »Wieso sollte er das getan haben?«
»Aus Missgunst«, meinte Vornholte. »Und aus Ärger darüber, dass Hanne als junge Frau mit ihm gebrochen hatte. Er hat ihr nicht gegönnt, ihre Familie wiederzufinden. Es lag nur an ihm, ob das gelingen würde. Und da konnte er der Versuchung nicht widerstehen, Hanne eins auszuwischen.«
»Ihr eins auswischen? Die Formulierung passt wohl nicht zu dem, was sein Handeln zur Folge hatte.«
»Für Alfons war es aber so. Er hat nie verstanden, wie verheerend sein Handeln für andere war. Denken Sie nur an seine Exfrau, die er vom Hof gejagt hat, als sie die Diagnose multiple Sklerose bekommen hat. So war er.«
»Aber wenn Jens Vogelsang doch von Alfons Schulte-Stein weggeschickt worden ist«, fragte Keller, »wie hat er Sie dann trotzdem gefunden?«
»Er hat einfach nicht aufgehört zu suchen. Er war hartnäckig. Auch, als sein Vater kurz darauf verstorben ist. Er hat einfach weitergesucht. Wenn Hanne noch lebte, sollte sie das Grab ihres Bruders besuchen. Sie sollten wieder zusammenfinden. Ob im Leben oder im Tod, das war nicht mehr wichtig für ihn. Schließlich hat er Fritz Schulte-Stein aufgetrieben, der ebenfalls in Köln lebte, und erfahren, dass er im Krankenhaus lag. Er litt an Krebs, und die Prognosen waren schlecht. Jens hat ihn besucht und ihn über Hanne ausgefragt. Außerdem hatte er ein Foto dabei. Fritz war nicht wie Alfons, er hat ihm alles von Hanne erzählt. Und er hat sie auf dem Foto wiedererkannt. So ist Jens dann doch noch bei uns auf dem Hof gelandet.«
»Und Ihre Frau?«, fragte Keller.
»Hanne war zwei Wochen zuvor gestorben und hat ihren Neffen nicht mehr zu Gesicht bekommen. Sie starb, ohne zu erfahren, dass ihr Bruder den Krieg überlebt und später einen Sohn gezeugt hatte.«
Keller kaute auf seiner Unterlippe. Ihm ging auf, was geschehen sein musste: Walther Vornholte hatte Alfons Schulte-Stein getötet, um sich an ihm zu rächen. Hätte er Hannes Neffen nicht fortgeschickt, hätte sie mit ihrem Leben Frieden schließen können. Doch so war sie verzweifelt und unglücklich gestorben.
Auch Vornholte schien gar nicht mehr nach Auswegen zu suchen. Er wollte nur noch seine Beichte ablegen. Die
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