Düstermühle: Ein Münsterland-Krimi (German Edition)
richtig?«
Vornholte atmete tief durch. »Hanne hatte plötzlich die Idee, nach ihrem Bruder zu suchen. Ich weiß nicht, woher dieser Wunsch eigentlich kam, aber er hatte die Wirkung eines Dammbruchs. Ihr ganzes Leben über hatte sie nicht an ihre Kindheit zurückdenken wollen, aber plötzlich war alles anders. Dabei konnte ihr keiner sagen, ob ihr Bruder den Krieg überlebt hatte. Aber das war ihr egal. Sie wollte Gewissheit haben. Sie wollte nicht sterben, ohne sein Schicksal zu kennen. Ihre Eltern waren tot, daran gab es keinen Zweifel. Aber was war mit ihrem Bruder? Sie kannte nur seinen Namen: Peter Vonnesand. Zumindest glaubte sie zu der Zeit, das wäre der Name. Am Ende stellte sich ja heraus, dass der Familienname Vogelsang war und nicht Vonnesand. Hanne konnte sich an ihren Nachnamen nicht richtig erinnern, wie an so vieles nicht, was vor fünfundvierzig war. Aber das wussten wir damals ja noch nicht. Wir haben uns also auf die Suche gemacht. Es gibt Kindersuchdienste, die immer noch daran arbeiten, verlorene Kinder aus dem Weltkrieg aufzuspüren. Auch heute noch, fast siebzig Jahre danach, gibt es Leute, die ihre Verwandten suchen. Hanne war nur eine von vielen. Doch wir kamen nicht weiter. Keine Spur von Peter. Hannes Angaben waren wohl zu ungenau. In ihren Unterlagen stand, sie wäre in Aachen geboren, aber sie selbst glaubte, sie wäre auf dem Land aufgewachsen. Heute weiß ich es besser. Der Eintrag in den Unterlagen ist richtig, sie war tatsächlich in Aachen geboren, wo sie gelebt hat, bis der Krieg begann. Danach begann die Flucht. Sie wurde erst in Aachen ausgebombt, dann in Düren und schließlich in Koblenz. Drei Bombardierungen hat sie überlebt, das muss man sich mal vorstellen. Sie und ihr Bruder wurden dann in den Harz geschickt. Sie waren inzwischen Waisen, die Mutter starb in Düren und der Vater an der Front. Im Harz landeten sie in einem Kinderheim. Später wurden sie getrennt, Hanne kam nach Osnabrück und Peter ins Siegerland. Heute lässt sich nicht mehr nachvollziehen, weshalb sie nicht zusammenblieben. Jedenfalls kam Hanne allein nach Osnabrück, ohne ihren Bruder, und in ihren Unterlagen stand: Vollwaise, keine Geschwister. Die Zeit im Kinderheim muss schrecklich gewesen sein. Es konnte sich ja keiner kümmern um die vielen Kinder. Kurz darauf kam sie dann auf den Hof von Schulte-Stein. Und auch dort gab es wenig Liebe. Sie war eine kleine Kämpferin geworden, sie hatte durchgehalten und sich immer damit getröstet, dass sie eines Tages als Erwachsene glücklich sein werde. Sie musste nur durchhalten, das war ihr Mantra gewesen, und so hat sie alle emotionalen Entbehrungen ihrer Kindheit überstanden.«
Er hielt inne. Stille legte sich über den Raum.
»Wir hatten ein gutes Leben«, fuhr er schließlich fort. »Sie hat mich glücklich gemacht, vom ersten Tag an. Und ich habe versucht, sie ebenfalls glücklich zu machen. Wir haben alles hinter uns gelassen. Alles, was damals passiert ist. Das, was sie sich als Kind vorgenommen hatte, war Wirklichkeit geworden. Sie war eine glückliche Erwachsene geworden. Es war genau so, wie sie es sich erträumt hatte.«
Wieder fiel er in Schweigen. Um ihn zum Weiterreden zu bewegen, sagte Gratczek: »Das war sie bis zu ihrer Rente. Aber dann holte die Vergangenheit sie wieder ein.«
»Ja, so war es. Sie hatte viel Zeit zum Nachdenken. Und dann rückt das Lebensende irgendwann ins Blickfeld, verstehen Sie? So etwas ändert die Dinge. Sie hatte sich ihrer Kindheit gestellt. Und dann wollte sie ihren Bruder wiederfinden, um mit dieser Zeit abschließen zu können.«
Vornholte sah auf und lächelte traurig. »Sie hatte immer so eine Kindheitserinnerung. Ein Bild aus der Zeit, wo alles noch in Ordnung gewesen war und sie sich geliebt gefühlt hatte. Da waren ein See und eine Blumenwiese. Heute weiß ich, dieser See liegt im Harz, dort, wo sie mit ihrem Bruder gelandet war. Das Bild stammte also gar nicht aus Aachen und der Zeit, als ihre Eltern noch lebten, sondern aus einer viel späteren Phase, mitten im Grauen. Ihr Bruder hatte ihr ein so starkes Gefühl der Geborgenheit gegeben, dass sie glaubte, diese Erinnerung stammte aus der Zeit vor dem Krieg. Deshalb dachte ich immer, sie käme aus den Ostgebieten.«
»Wie ging es dann weiter?«, fragte Gratczek.
»Sie hat ihn nicht gefunden. Wir hatten einfach zu wenig konkrete Informationen, die wir den Suchdiensten bieten konnten. Man hat ihren Bruder nicht ausfindig machen können. Hanne hat sich
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