Düstermühle: Ein Münsterland-Krimi (German Edition)
dich an den alten Otto noch erinnern? Er ist seit Langem tot. Ich …«
Ihre Mutter reagierte nicht. Es hatte keinen Sinn. Sie war vergebens hergefahren.
Mit einem Seufzer stand sie auf und trat ans Fenster. Draußen legte sich die Dämmerung übers Land. Es schneite immer noch leicht. Auf der Rasenfläche hinter dem Pflegeheim hatte sich eine dünne und verletzliche Schneeschicht gebildet. Doch auf den Wegen und dem Parkplatz war nur Nässe. Der geschmolzene Schnee glitzerte im Licht der Laternen.
»Ich habe Siegfried verloren. Er hat mich einfach alleingelassen. Etwas anderes war für ihn wichtiger. Er hat der Fehde mit Alfons den Vortritt gelassen. Und jetzt … Ich weiß nicht, wie ich weitermachen soll. Alles nur wegen diesen vermaledeiten Schulte-Steins. Dieser ganze Hass, wofür ist der gut? Und ich bin jetzt ein Teil dieser Familiengeschichte geworden. Schulte-Stein. Ich wünschte, es hätte sie nie gegeben.«
Sie spürte Tränen aufsteigen. Der Garten, die Parkplätze, alles begann zu verschwimmen. Sie wollte ihrer Trauer freien Lauf lassen.
Ein Geräusch. Das Quietschen von Bettfedern. Renate blinzelte die Tränen weg und drehte sich um. Ihre Mutter saß aufrecht da und klammerte sich an den metallenen Pfosten. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Angst und Panik spiegelten sich darin.
»Du musst das Kind verstecken!«, rief sie.
»Mutter …«
Renate lief eilig zum Bett. Versuchte sie zu trösten. Doch sie drang nicht zu ihr durch. Ihre Mutter fasste sie an ihren Schultern. Sie krallte sich regelrecht an ihr fest. So viel Kraft hatte sie ihr nicht mehr zugetraut. Die Mutter war außer sich.
»Das Kind. Es darf ihm nichts geschehen, hörst du?«
»Mutter, bitte. Es ist gut, alles ist gut.«
Renate bekam es mit der Angst. Was war denn nur mit ihr los?
»Es ist doch noch so klein«, flüsterte ihre Mutter. »Es hat keinem was getan. Du musst es verstecken, versprich mir das.«
»Mutter, bitte. Hör auf. Hör doch endlich auf.«
»Die Russen kommen zurück. Ottos Zwangsarbeiter. Sie werden sich an ihm rächen. Sie kommen in der Nacht. Du musst das Kind verstecken. Versprich mir das.«
Renate konnte die Angst und das Grauen in ihren Augen nicht ertragen. »Ja, ich verspreche es«, sagte sie. »Es wird ihm nichts passieren. Hörst du? Ich verspreche es.«
Die Panik im Blick ihrer Mutter flackerte noch mal auf, dann verschwand sie. Auch der feste Griff ließ nach. Sie atmete aus. Dann sank sie zurück in ihr Kissen, und der vertraute Schleier legte sich wieder über ihre Augen. Sie war jetzt fort. Starrte unbeteiligt gegen die Wand.
Renate konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.
»Ich verspreche es«, flüsterte sie. »Hörst du, Mutter? Ich verspreche es. Es wird dem Kind nichts passieren.«
Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie noch am Bett ihrer reglosen Mutter gesessen und ihrer Trauer freien Lauf gelassen hatte. Doch irgendwann klingelte das Handy, Bodo war am Apparat. Sie wischte die Tränen mit dem Ärmel fort und nahm das Gespräch entgegen.
»Wo bist du denn? Wir warten auf dich.«
»Ich bin noch im Modehaus. Es dauert nicht mehr lange.«
»Der Pfarrer kommt gleich. Er möchte mit uns reden. Hast du das vergessen?«
»Nein. Ich beeile mich. Ich bin schon unterwegs, rede du solange mit ihm.«
»Bist du wirklich im Modehaus?«
»Natürlich. Wo soll ich sonst sein? Ich komme jetzt.«
Sie steckte das Handy wieder ein.
Ihre Mutter schien von ihrer Umgebung nichts wahrzunehmen. Sie war weit entfernt, in ihrer eigenen Welt.
Von welchem Kind sie wohl gesprochen hatte? War das ein Traum gewesen? Oder eine Erinnerung? Doch ihre Mutter hatte sich wieder zurückgezogen an den Ort, zu dem Renate keinen Zugang hatte.
»Bis bald, Mutter«, flüsterte sie.
Dann beugte sie sich vor, küsste ihre Stirn, drehte sich um und verließ den Raum.
Der Friedhof von Düstermühle lag in der Dämmerung. Wolkenwände türmten sich bedrohlich auf, der nächste Schneeschauer stand unmittelbar bevor. Nach und nach versank alles in der Dunkelheit. Nur die Grablichter flackerten unbeirrt weiter.
Heinz Moorkamp war in seiner Gastwirtschaft gewesen, als der Anruf eingegangen war. Unter einem Vorwand hatte er sich davongemacht und war zum Friedhof gefahren. Er ärgerte sich über dieses Treffen. Und dann auch noch an so einem Ort. Allmählich machte er sich Sorgen.
Bereits von Weitem konnte er die dunklen Umrisse seines Nachbarn ausmachen. Walther Vorholte stand am Grab seiner Frau. Wieder
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