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Düstermühle: Ein Münsterland-Krimi (German Edition)

Düstermühle: Ein Münsterland-Krimi (German Edition)

Titel: Düstermühle: Ein Münsterland-Krimi (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Holtkötter
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war Renate ihre Schuldgefühle niemals losgeworden.
    Auch jetzt, als sie durch den Flur ging und die kleine Wohnung ihrer Mutter betrat, machten sie sich wieder bemerkbar. Eine Schwester schlug gerade das Bett frisch auf und redete fröhlich drauflos. Dabei wirkte ihr Mutter so weit weg. Sie blickte starr zur Decke und verzog keine Miene. Der körperliche Verfall war gar nicht das Schlimmste. Ihre Persönlichkeit veränderte sich. Seit ihrem Schlaganfall war sie kaum noch ansprechbar. Ihr Bewusstsein hatte sich in einen verborgenen Raum zurückgezogen, und die Tür dorthin öffnete sich nur noch sehr selten. Meist hockte sie einfach da und starrte vor sich hin. Und wenn sie dann doch einmal etwas sagte, war der Sinn oft nur zu erahnen.
    Nur manchmal war es anders. Als wenn sich plötzlich ein Vorhang heben würde, klärte sich ihr Blick, und sie begriff genau, was um sie herum passierte. Dann war sie wieder wie früher, erkannte Renate als ihre Tochter und erinnerte sich an jeden Tag ihres gemeinsamen Lebens. Doch diese Momente dauerten meist nur Sekunden an. Danach tauchte sie wieder zurück in ihre Schattenwelt, und Renate blieb mit einer Fremden zurück.
    Ihre Mutter konnte ihr wahrscheinlich keine Antworten geben, vielleicht würde sie Renate nicht einmal erkennen. Trotzdem musste sie es versuchen. Sie hoffte auf einen Hinweis, irgendwas, das ihr half, die Vorgänge zu begreifen. Denn ihre Mutter war dabei gewesen, als die Fotos gemacht wurden. Sicherlich bewahrte sie alle Geheimnisse von damals tief in ihrem Innern auf.
    »Frau Wüllenhues, wie schön, Sie zu sehen«, begrüßte sie die Schwester.
    Renate beäugte sie misstrauisch, aber die Freude schien aufrichtig, da war kein Vorwurf, sie käme zu selten. Sie stellte sich neben das Bett.
    »Wie geht es meiner Mutter denn heute?«, erkundigte sich Renate.
    »Heute Morgen ging es ihr besser. Sie ist ein bisschen erschöpft, und die dunkle Jahreszeit tut das ihre. Aber sie hat keine Schmerzen. Und traurig ist sie auch nicht. Nur eben erschöpft.«
    Renate betrachtete ihre Mutter im Bett. Wie gut musste man diesen Menschen kennen, um dies alles über ihn sagen zu können? Wie viel Zeit musste man dafür mit ihm verbracht haben? Sie empfand Trauer. Sie selbst hätte das Befinden ihrer Mutter niemals so dezidiert beschreiben können. Nicht seit dem Schlaganfall. Vielleicht war es doch falsch gewesen, sie ins Pflegeheim zu geben.
    »Sie freut sich aber trotzdem über Ihren Besuch«, sagte die Schwester. »Ganz bestimmt. Ich lasse Sie jetzt allein.«
    Sie verließ den Raum, und Renate setzte sich auf die Bettkante. Sie nahm die Hand ihrer Mutter. Die Knochen waren dünn und zerbrechlich, wie die eines Vögelchens, die Haut trocken und fahl. Renate legte die Hand an ihre Wange. Ihre Mutter sah sie schweigend an.
    »Hallo, Mutter. Ich bin’s, Renate. Deine Tochter.«
    Nichts. Keine Reaktion. Renate hatte natürlich damit gerechnet, es war ja meistens so. Trotzdem spürte sie den Schmerz. Erst jetzt wurde ihr klar, wie sehr sie sich gewünscht hatte, ihre Mutter heute bei sich zu haben. Nach Siegfrieds Tod fühlte sie sich so allein gelassen. Sie wünschte, ihre Mutter hätte sie erkannt. Nur für einen Augenblick. Für ein Lächeln.
    »Du fehlst mir, Mutter.«
    Da saß sie nun, eine Frau von siebenundsechzig Jahren. Und trotzdem war sie das kleine Mädchen, das von ihrer Mutter beschützt werden wollte.
    »Siegfried ist tot. Mein Mann, weißt du?«
    Doch die alte Frau starrte unbeteiligt gegen die Wand. Renate strich ihr zärtlich über den Arm. Sie schob ihre Gefühle beiseite. Obwohl sie nicht mehr damit rechnete, etwas erfahren zu können, sprach sie nun den Grund ihres Besuchs an.
    »Ich möchte mit dir über früher reden. Über die Familie Schulte-Stein. Ich …«
    Sie wusste nicht einmal, was sie fragen sollte. Alles war so diffus, sie hatte ja selbst keinen Schimmer, in welche Richtung sie forschen sollte.
    »Siegfried ist in Alfons Schmiede umgekommen. Es gab ein Feuer. Auch Alfons ist tot. Du weißt ja, die beiden haben sich nicht gemocht, genau wie ihre Väter. Aber …«
    Ihre Mutter blickte weiter starr und unbeteiligt zur Wand. Renate machte dennoch weiter.
    »Dann hat es noch einen Einbruch gegeben bei Rosa Deutschmann. Du weißt doch noch: Rosa. Sie hat früher mit ihren Eltern in unserer Straße gewohnt. Ein Fotoalbum ist gestohlen worden. Da waren Bilder drin von damals. Aus dem Krieg. Sie hat … es waren Fotos von Otto Schulte-Stein. Kannst du

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