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Düstermühle: Ein Münsterland-Krimi (German Edition)

Düstermühle: Ein Münsterland-Krimi (German Edition)

Titel: Düstermühle: Ein Münsterland-Krimi (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Holtkötter
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er ein verbitterter Mann gewesen. Bis zu seinem Tod hatte er nie wieder vom Krieg und von ihrer alten Heimat gesprochen. Aber er war hart geworden. Und kaltherzig.
    Rosa wollte lieber nicht wissen, was ihr Vater während des Krieges getan hatte. Ab dem ersten Tag war er an der Ostfront gewesen. Wer konnte da schon sagen, welche Orte er auf seinem Weg gesehen hatte. Und was dort mit den Menschen geschehen war. Es war ein Vernichtungsfeldzug gewesen, heute wusste man das.
    Als er auf dem Sterbebett lag, sagten die Ärzte mehrmals seine letzte Stunde voraus. Er war vom Krebs zerfressen und nur noch Haut und Knochen. Und immer wieder versammelte sich die Familie an seinem Bett, um Abschied zu nehmen. Doch er starb nicht. In einem Wechsel aus Angstzuständen, Schweißausbrüchen, Schlaflosigkeit und Albträumen klammerte er sich panisch ans Leben. Bis zur allerletzten Sekunde. Rosa erinnerte sich, wie ihre neunzigjährige Tante Hiltrud damals sagte: »Er hat Angst vor dem, was nach dem Tod folgen könnte.« Doch keiner hatte etwas davon hören wollen. Nur Rosa verstand: Ihrem Vater war es gelungen, den Tod immer wieder aufzuschieben, aus lauter Angst davor, für seine Taten bestraft zu werden.
    Rosa wollte seine Frontbriefe aussortieren und zur Seite legen, als sie auf einen Umschlag stieß, der die Handschrift ihrer Mutter trug. Sie zog ihn heraus und hielt ihn gegen das Licht. Er war an ihren Vater adressiert, aber offenbar nicht abgeschickt worden. Sie zog das seidenmatte Papier hervor, das die akkurate Handschrift ihrer Mutter trug. Der Brief war auf den 4. März 1945 datiert, kurz nach ihrer Ankunft auf dem Hof von Schulte-Stein. Offenbar hatte sie den Brief nicht mehr abgeschickt, und kurz darauf trafen ja auch schon die Alliierten im Münsterland ein.
Mein lieber Gotthold, uns geht es gut, mach dir keine Sorgen. Wir sind auf einem Bauernhof in Westfalen untergebracht. Hier haben wir alles, was wir zum Leben brauchen, auch wenn es nicht die Heimat ist. Die Flucht war voller Strapazen, aber ich möchte nicht in das allgemeine Gejammer einstimmen. Mit eurer und mit Gottes Hilfe werden wir den Feind zurückschlagen und es ihm doppelt und dreifach zurückzahlen. Das ist meine feste Überzeugung. Die Moral der Menschen macht mir die größten Sorgen. Aber warte nur: Die, die jetzt am ärgsten zweifeln, das werden die sein, die später am lautesten brüllen, sie hätten das immer gewusst, dass Hitler den Endsieg davontragen wird. Bald werden wir in die Heimat zurückkehren, das ist gewiss. Den beiden Mädchen geht es gut. Es fehlt ihnen an nichts. Hier gibt es viele andere Kinder, mit denen sie spielen können. Der Bauer hat sechs davon, die wie die Orgelpfeifen sind. Da kommt bei den Mädchen keine Langeweile auf. Sie scheinen vom Krieg nichts mitzubekommen. Es ist, als perlte das Übel an ihren reinen Kinderseelen einfach ab. Wie schön zu wissen, dass sie einmal in einem besseren und größeren Deutschland leben werden. Leb wohl, mein lieber Mann, und Heil Hitler. Deine treu ergebene Emmi
    Rosa ließ den Brief sinken. Sie fühlte sich benommen. Hatte ihre Mutter wirklich so sehr an Hitler geglaubt? Wenige Wochen vor dem Einmarsch der Alliierten? Wo das ganze Land bereits in Trümmern lag? Und was war das mit ihrer Schwester? Margot war doch da bereits tot gewesen. Wieso sprach sie von »den beiden Mädchen«? Hatte sie Angst vor der Zensur? Wollte sie ihren Ehemann nicht demoralisieren? Oder verbog sie die Tatsachen, weil sie die Wirklichkeit nicht ertragen konnte? War das tatsächlich ihre Mutter, deren Zeilen sie hier las?
    Sie faltete den Brief zusammen und legte ihn mit den anderen zurück. Es war keine gute Idee gewesen, in den alten Unterlagen zu wühlen.
    Dieses Mal ließ sie die Zigarrenkiste nicht auf dem Couchtisch stehen. Sie brachte sie wieder auf den Dachboden und vergrub sie tief im Schrank. Nie wieder wollte sie die Kiste hervorholen, das schwor sie sich.
    Wieder zurück in ihrem Sessel am Öfchen, nahm sie die Handarbeit auf. Vielleicht hatten der Einbruch und der Diebstahl des Fotoalbums ja sein Gutes. Dadurch war sie jetzt nicht mehr beteiligt. Sie hatte mit den alten Geschichten nichts mehr zu tun.
    Sie wollte nicht mehr an damals zurückdenken. Dort lauerte einfach zu viel, an das sie besser nicht rührte.

12
    Hambrock war zu spät ins Bett gekommen. Außerdem hatte er zu viel getrunken. Das Ergebnis waren ein nagender Kopfschmerz und Übelkeit. Am liebsten wäre er einfach im Bett geblieben. Aber

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