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Düstermühle: Ein Münsterland-Krimi (German Edition)

Düstermühle: Ein Münsterland-Krimi (German Edition)

Titel: Düstermühle: Ein Münsterland-Krimi (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Holtkötter
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bis Weihnachten damit fertig sein wollte, musste sie sich beeilen. Trotzdem. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Es gab so viel, worüber sie nachdenken musste.
    Der Nordwind rüttelte an ihren Fenstern. Erst der Eisregen und jetzt der Sturm. Das Wetter schlug um, es wurde ungemütlich. Da half auch die Nackenrolle auf der Fensterbank nichts mehr, Rosa spürte den eisigen Luftzug.
    Das sechste Kind – das war der Schlüssel zu den Ereignissen der letzten Tage. Sie machte sich Vorwürfe, nicht viel eher daraufgekommen zu sein. Es lag doch alles offensichtlich auf der Hand. Sie war damals dabei gewesen. Sie hatte es mit eigenen Augen gesehen.
    Doch Rosa dachte so ungern an die Zeit zurück. Deswegen waren ihr die Zusammenhänge lange nicht klar geworden. Sie war ein verstörtes und ängstliches Mädchen gewesen, als sie im März 1945 auf dem Hof der Schulte-Steins angekommen war. Die Flucht aus dem Osten und die Schrecken, die sie dabei erlebt hatte. Die endlose Reise durch das zerstörte Deutschland, und nirgends hatte es eine Heimat für sie gegeben. Der Hunger, die Kälte und die spürbare Verzweiflung unter den Erwachsenen. Am schlimmsten aber war der Tod von Margot gewesen.
    Auf dem Hof der Schulte-Steins hatte Rosa sich wie in einer Blase gefühlt. Als wäre die Zeit stehen geblieben. Das alte Leben war vorüber. Margot war fort. Und keiner wusste, wann ein neues Leben beginnen würde. Oder ob es überhaupt eine Zukunft gab, die lebenswert war.
    Da hatte sie keine Augen für das gehabt, was auf dem Hof geschah. Sie hatte sich innerlich zusammengerollt und auf das gewartet, was kommen würde. Natürlich waren da vor ihrer Nase Dinge passiert, die Auswirkungen bis auf den heutigen Tag hatten. Das kleine Kind, das sie gesehen hatte, zum Beispiel, das sechste Kind. Aber damals war es ihr nicht wichtig vorgekommen. Sie hatte an der Stallwand gesessen und die warme Märzsonne auf ihrem Gesicht gespürt. Wenn sie an die Zeit auf dem Hof zurückdachte, war dies der Moment, an den sie sich zuallererst erinnerte. Der Rest war wie im Nebel.
    Rosa sah zur Uhr. Bestimmt war Carl inzwischen zu Hause. Sie legte die Strickarbeit aus der Hand und ging zum Telefon. Doch Beekes Anschluss war besetzt. Sie wanderte im Zimmer herum, lauschte auf das Heulen des Windes und versuchte es schließlich noch einmal. Wieder besetzt. Wahrscheinlich telefonierte Christa mit irgendwelchen Firmen. Da wurde ja bis tief in die Nacht gearbeitet. Rosa wollte es morgen früh versuchen.
    Sie kehrte zurück zu ihrem Sessel. Da ließ ein Geräusch sie aufhorchen. Ein Poltern oder Rütteln. Das war nicht der Wind, sondern etwas anderes. Sie lauschte. Doch es war wieder fort. Zögerlich setzte sie sich. Dann erklang plötzlich ein lautes Klirren auf ihrer Terrasse. Sie sprang auf. Eine Dachpfanne musste sich gelöst haben. Das hätte Rosa sich denken können. Der Dachstuhl war marode, kein Wunder, dass so etwas passierte. Der Wind böte auf und pfiff in den Fugen.
    Rosa ging zur Terrassentür und schaltete die Außenbeleuchtung ein. Im grellen Licht erkannte sie: Die Scherben vor dem Haus gehörten zu keiner Dachpfanne. Vor ihr lag einer ihrer Gartenzwerge, zersplittert. Wie war das möglich? Im Winter standen die Gartenzwerge doch im Gerätehäuschen. Sie sah in den dunklen Garten hinaus. Und tatsächlich, die Tür zum Schuppen stand offen.
    Die Nachbarsjungen. Sie erlaubten sich wieder einmal einen Spaß. Aber diesmal ging es zu weit. Denen würde sie die Leviten lesen.
    Rosa legte den Griff um und zog die Tür zur Seite. Ein eiskalter Wind erfasste sie. Doch sie achtete nicht darauf.
    »Ihr Lausebengel!«, rief sie in die Nacht hinaus. »Wo seid ihr? Zeigt euch! Na, ihr könnt was erleben!«
    Die Trauerfeier war zu Ende. Es wurde aufgeräumt. Moorkamps Kinder räumten das Geschirr von den Tischen und zogen die Tischdecken herunter. Die letzten Gäste nahmen im Schankraum die Mäntel vom Haken und steuerten den Ausgang an. In der Küche ging ein Teller zu Bruch.
    Es war vorüber. Renate spürte in erster Linie Erleichterung. Sie hatte den Tag überstanden, darauf kam es an.
    »Renate, soll ich dich nach Hause bringen?« Inge Moorkamp stand hinter ihr, hielt Renates Mantel in der Hand und lächelte. Wieder sah sie aus, als gäbe es nichts auf der Welt, das sie erschüttern könnte. Renate hätte sie gerne mitgenommen, nur um dieses Lächeln bei sich zu Hause zu haben.
    »Ich habe noch ein Suppenhuhn in der Gefriertruhe«, fuhr Inge fort. »Wenn du

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