Düstermühle: Ein Münsterland-Krimi (German Edition)
Glück stand sein Sohn dann noch bei ihm vor der Tür.
Erst der Weg vom Parkplatz zum Pflegeheim, dann das Herumstehen an der Pforte und schließlich die Treppen und der lange Flur. Das alles setzte Carl mehr zu, als er geglaubt hatte. Er stützte sich auf seinen Stock und biss die Zähne zusammen. Trotzdem wurde er immer langsamer. Im Augenwinkel bemerkte er, wie Bernhard Hambrock sein Tempo anpasste. Er verlangsamte seine Schritte und achtete darauf, mit Carl auf gleicher Höhe zu bleiben. Fehlte nur noch, dass er ihn am Arm nahm.
Carl deutete auf die Tür am Ende des Flurs. »Da vorne ist es. Wir sind da.«
Bernhard Hambrock klopfte, und kurz darauf erschien eine Schwester. Eine junge und lebensfroh wirkende Frau mit offenem Haar und geschminkten Lippen. Sie begrüßte die beiden mit einem strahlenden Lächeln.
»Ich bin ein ehemaliger Nachbar von Ilse«, sagte Carl. »Ich würde ihr gern einen Besuch abstatten. Ist sie da?«
»Schon«, sagte die Schwester. Kurz fiel ein Schatten über ihr Gesicht. »Da ist sie schon. Aber … ach was, kommen Sie einfach herein.« Wieder dieses unbeschwerte Lächeln. Dann rief sie über die Schulter: »Ilse! Sie haben Besuch!«
Die beiden Männer traten ein. Es ging durch einen engen schmalen Flur, dahinter war das Wohnzimmer. Die Schwester verschwand summend in der Küche, wo sie offenbar gerade sauber machte. Geschirrgeklapper und das Geräusch von fließendem Wasser drang heraus. Carl trat ins Wohnzimmer. Ein kleiner, aber freundlich eingerichteter Raum mit großen Fenstern, die zum Park führten. Mittendrin ein Sessel mit Blick nach draußen, ganz so wie bei ihm zu Hause. Dort hockte Ilse. Carl trat näher.
Er erkannte sie beinahe nicht wieder. Sie war nur noch Haut und Knochen. Fahl, hohlwangig und dürr. Saß gebeugt in ihrem Sessel und starrte ins Nichts. Die Parklandschaft interessierte sie nicht, sie hatte gar keine Augen dafür. Ihr Blick war glasig und leer.
Carl ließ sich gegenüber dem Sessel auf einen Stuhl sinken. Er blickte sie an. Ilse. Ja, sie war es. Er erinnerte sich an die lebensfrohe und zupackende Frau, die sie einmal gewesen war.
»Reden Sie mit ihr!«, drang es aus der Küche. »Sie mag es, wenn man mit ihr spricht.«
Bernhard Hambrock trat einen Schritt zurück und setzte sich aufs Sofa. Er wartete.
Carl lächelte sie an. »Ilse? Ich bin es, Carl Beeke.«
Keine Reaktion.
»Du weißt doch, der kleine Kotten an der Straße nach Ostbevern. Da haben wir gelebt. Mia und ich. Erinnerst du dich an Mia Beeke?«
Irgendwie hatte Carl gehofft, sie würde sich wenigstens an Mia erinnern. Die beiden Frauen waren damals Freundinnen gewesen. Ilse war oft bei ihnen auf dem Kotten gewesen, hatte beim Wursten geholfen oder gemeinsam mit Mia Obst eingekocht. Nach getaner Arbeit hatten die beiden Frauen dann im Garten unter der Linde gesessen, Kaffee getrunken und geredet und gelacht.
Mia. Es war eine gute Zeit gewesen, gemeinsam mit ihr auf dem Kotten. Seine kleine Scholle Land, die er über alles geliebt hatte. Er und Mia. Heute erschien es ihm wie das Paradies.
»Ich hätte dich viel früher besuchen sollen, Ilse.« Er nahm ihre zerbrechliche Hand. »Es tut mir leid. Bist du mir böse?«
Ilse hob den Kopf. Sie sah Carl verständnislos an. »Mia«, sagte sie.
Er lachte. »Ja, richtig, Ilse. Mia. Sie lässt dich schön grüßen. Leider konnte sie mich nicht begleiten.«
Doch Ilses Kopf senkte sich wieder. Sie tauchte ab und starrte unbewegt zu Boden.
Carl sah die beiden Frauen vor sich, wie sie im Garten saßen und lachten. Als wäre es gestern gewesen. Er konnte seine Arbeitshosen nicht finden, und weil er nicht wusste, dass Besuch da war, lief er mit schmutzigen langen Unterhosen hinaus in den Garten. Der Schreck war groß, doch dann sagte Mia: »Na, Carl, hast du deine Jogginghosen an?« Sie tat sich schwer, dieses neumodische Wort auszusprechen, doch damit war die Scham verflogen, und alle hatten laut gelacht, vor allem Ilse.
Er spürte eine Hand auf seiner Schulter. Es war Bernhard Hambrock. Carl sah auf. Er schüttelte den Kopf: Sie würden hier nichts erreichen. Ilse war nicht ansprechbar.
Die Schwester war in der Tür aufgetaucht. Sie betrachtete Ilse mit nachdenklicher Miene.
»Sie hatte schon bessere Tage«, sagte sie. »Man weiß nicht, wann sich ihre Stimmung wandelt. Ihre Tochter war gestern hier, seitdem ist sie so. Eigentlich freut sich Ilse immer über Renates Besuch. Aber gestern hat sie sich danach ganz zurückgezogen.« Offenbar
Weitere Kostenlose Bücher