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Duft der Unschuld - Tennington (German Edition)

Duft der Unschuld - Tennington (German Edition)

Titel: Duft der Unschuld - Tennington (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathan Jaeger
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noch immer Musik von ihm. Die Töne klangen schwermütig und traurig. Melancholisch, irgendwie. Ich blieb eine ganze Weile stehen, um herauszufinden, was er da hörte.
    Bevor ich mir sicher sein konnte, stiefelte ich in mein Zimmer und suchte aus dem CD-Regal einen Silberling von Coldplay heraus und legte ihn ein.
    Ich startete das vierte Lied und nickte vor mich hin. Ja, Etienne hörte in Dauerwiederholung ‚The Scientist‘. Ich ließ die Platte laufen und achtete darauf, dass ich noch unter der Zimmerlautstärke blieb. Dann setzte ich mich an meinen Laptop und tat etwas, das ich nur selten machte und lange nicht mehr für nötig befunden hatte – ich schrieb eine Email an einen imaginären, alles über mich wissenden Menschen. Ich hatte ihn ‚Duncan‘ genannt und ihm ein Postfach eingerichtet. Vielleicht etwas verschroben, das Ganze, aber als ich nach dem Tod des echten Duncan vor anderthalb Jahren damit begonnen hatte, mir alles von der Seele zu schreiben, erschien es mir logisch und richtig. Ich könnte, wann immer ich wollte, das Postfach aufrufen und alles nachlesen, was mich gedanklich und emotional umgetrieben hatte. Und sobald ich die Email abgeschickt hatte, fühlte ich mich jedes Mal freier.
    Ich schrieb und schrieb. Von den Anfängen, von Etienne, von der Verbindung, einfach alles. Es musste raus, jetzt und sofort. Ich sendete die Nachricht ab und sank gegen die Lehne meines Bürostuhls. Plötzlich war ich wie leer, wie ein unbeschriebenes Blatt.
    Und es tat gut. So ein schwebender Zustand, nicht auf dem Boden, nicht wirklich in der Luft. Frei.
    Erleichtert, sozusagen. Dabei hatte ich all das, was ich an meinen imaginären Duncan geschrieben hatte, doch selbst erlebt und bereits gewusst. Trotzdem kannte ich den Unterschied, der sich aus den Mails ergab. Auch wenn ich in tausend Jahren keine Antwort bekommen würde, reflektierte ich meine Handlungsweisen, meine Worte, meine Reaktionen und meine Gefühle durch diese elektronische Post.
    Ich musste es Duncan erklären und erklärte es dabei mir selbst.
    Lächelnd stand ich auf und genoss das Gefühl des Schwebens noch ein bisschen, bevor ich die Reitsachen holte und in den Stall ging. Als ich die Handschuhe anzog und aufsaß, fiel mein Blick auf die kleinen weißen Narben an meinen Handgelenken.
    Jedes meiner wichtigen Gelenke war mit diesen Narben besetzt. Knöchel, Knie, Hüfte, Wirbelsäule, Schultern, Ellenbogen und Handgelenke. Seit fast vier Jahren schon. Die Operationen waren schmerzhaft gewesen, doch der anschließende Heilungsprozess hatte jeder Beschreibung gespottet. Ohne Morphium hatte ich nicht einmal die Augen öffnen wollen. Damals mit zwölf Jahren. Ich hatte gewusst, dass es wichtig war, dass es nötig war. Zum Überleben, zum Weiterleben.
    Damit der Eine überleben und weiterleben konnte.
    Giacomo war heute erfreulich gut aufgelegt und locker. Er machte keinerlei Anstalten, sich seiner Faulheit zu ergeben. Stattdessen sprang er über Gräben und Baumstämme, Gatter und Mauern, die auf unserem Weg lagen. Es kam mir fast so vor als wüsste er, dass er mich heute bei Laune halten musste. Und das tat er, er schaffte es sogar, mich zu überraschen. Natürlich hatte mein treues Reittier einen gewissen Draht zu meinen Empfindungen, meinen Launen, aber es gab kein magisches Band zwischen uns. Vielleicht stach ihn heute auch einfach der Hafer?
    Egal, ich kostete seine weiten, kraftvollen Sprünge aus, atmete die frische, klare Luft tief ein und merkte schnell, dass es mittlerweile empfindlich kalt wurde. Früh senkte sich Nebel über die weiten Weidenhügel. Es war unbestritten Herbst. In Gedanken machte ich mir eine Notiz, ab morgen lieber eine dicke Jacke anzuziehen und eventuell auch die Winterstiefel hervorzukramen.
    Das leichte, freie Gefühl hielt an und in meinem Kopf kreiste der Text des Liedes, das Etienne vermutlich noch immer hörte. Ob seine Ohren schon bluteten? Wenn ich eines nie gekonnt hatte, dann war es, ein bestimmtes Lied in Dauerwiederholung zu hören.
    Ob er das Lied auf uns bezog? Auf das, was wir gehabt und verloren hatten? Denn darum ging es. Einer musste den anderen finden, nur um ihn zu verlieren …
    Ich schnaubte leise auf. Wie passend! Ich hatte ihn doch gefunden – und verloren.
    Glückwunsch, Yves!
    Ich verlor den Gefallen an Giacomos Bewegungen, fiel wieder in das widerlich große, so tiefe Loch, in das mich Verlust immer wieder riss. Duncan als besten Freund zu verlieren war schlimm gewesen, aber es war

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