Duft der Unschuld - Tennington (German Edition)
beileibe nicht der erste Verlust in meinem noch gar nicht so langen Leben. Und nicht der letzte. Ich hatte ausgerechnet IHN verloren. Etienne. Den Einen.
Zum Kotzen!
Es war Zeit, sich zum Abendessen umzuziehen. Ich brachte Giacomo in seine Box, versorgte ihn und ging in unsere Wohneinheit.
Schon beim Hereinkommen in den Flur hörte ich wieder die Liedzeilen, die mich eben so tief hinabgestoßen hatten. Ich musste dich finden, dir sagen, dass ich dich brauche, dass du etwas ganz Besonderes bist. Erzähl mir deine Geheimnisse, stell mir deine Fragen und lass uns zum Start zurückgehen.
Wenn wir das mal könnten! Ich seufzte vernehmlich und ging in mein Zimmer, um mich umzuziehen. Dinner stand in zwanzig Minuten auf dem Plan, ich hatte plötzlich viel zu viel Zeit!
Bevor ich sinnlos durch mein Zimmer tigerte, trat ich wieder hinaus und klopfte bei Etienne an, ehe ich meinen Impuls unterdrücken konnte. Ich wusste nicht einmal, was ich sagen sollte, wenn er zur Tür kam. Deshalb stand ich reichlich sprachlos vor ihm und sah zu ihm hoch, als er öffnete.
„Oh, Yves, willst du mich abholen?“
Ich fragte mich, wie er es schaffte, so normal zu sein. Ob er daran gewöhnt war, alles zu überspielen? Wo und wann hatte er das lernen müssen?
Schwerfällig nickte ich.
Er trat beiseite und machte eine einladende Handbewegung, der ich stumm und nur zögernd folgte. Ich wollte die Bilder nicht noch einmal sehen, das blutige Rot auf den Silhouetten meines Körpers, gebannt an seine Wände. Sichtbare Zeichen seines gebrochenen Herzens.
Die Musik lief noch immer, das gleiche Lied.
Wie hypnotisiert näherte ich mich ausgerechnet dem großen Bild an der Wand. Meine Hand streckte sich aus, bis meine Finger die erstaunlich kühle Farbe berührten.
„Es schockiert dich“, stellte er fest und ich fuhr ertappt zu ihm herum. Er beobachtete mich, stand mit vor der Brust verschränkten Armen da.
Ich machte eine Bewegung, die Kopfschütteln oder Nicken sein konnte. Es war doch egal, was ich davon hielt. Es waren seine Bilder, sein Zimmer. Was spielte es da für eine Rolle, dass jeder blutige Strich mir vorkam wie das Zeugnis eines gut gesetzten Peitschenhiebs?
„Wolltest du etwas Bestimmtes?“ Er klang so geschäftsmäßig, dass ich zusammenzuckte.
„Nein, ich … Ich gehe mal die anderen einsammeln.“ Flucht erschien mir als letzter Ausweg aus dieser Situation. Ich war schon an der Tür am Ende des kleinen Flures, als ich seine Stimme hörte und die Klinke wieder losließ, als wäre sie glühend heiß.
„Yves, ich glaube, es wäre besser, wenn …“, er brach ab und trotz der Musik hörte ich sein Seufzen.
„Nein, nein, schon gut“, würgte ich hervor. „ Niemand hat gesagt, dass es leicht wird .“ Die Zeile dieses Liedes fiel mir dazu noch ein. Endlich konnte ich die Klinke ergreifen, herabdrücken und hinauseilen. Nur weg!
Ich ging nicht ins Wohnzimmer und klopfte auch nicht an die Türen der anderen. Ich musste weg!
Und ich hatte keinen Hunger mehr, musste sogar darüber nachdenken, ob ich vorher überhaupt welchen gehabt hatte. Also, wozu sollte ich im Speisesaal auftauchen, wenn ich doch nur lustlos auf meinem Teller herumstochern würde. Im Hof traf ich Frank und William. Ich rief ihnen zu, dass sie mich entschuldigen sollten – mit Stephen konnte ich mich morgen herumärgern. Es würde sowieso einen Anschiss erster Güte für meine Fehlstunden vom heutigen Tag geben.
Ich schob die Hände in die Hosentaschen und ging ziellos über den Hof und zum See hinunter. Es war viel zu kalt, nur mit dem dünnen Pullover der Schuluniform und dem Jackett. Aber nach einem kleinen Schaudern verdrängten akutere Gefühle den Frost aus meinem Bewusstsein.
Die Sonne ging gerade unter und malte orangerote Streifen in die Wolkendecke, die heute nur wenige Löcher aufwies. Die kleinen Wellen auf dem See spiegelten die Lichtreflexe und verliehen dem Wasser ein unwirkliches Aussehen. Ich seufzte leise. Irgendwie fehlte mir der Blick für die Schönheiten der Natur, wenn mein Herz so schwer wurde. Denn ja, die Leichtigkeit, die meine Email mir geschenkt hatte, war offensichtlich eher eine Leihgabe gewesen.
Ich musste mich zusammenreißen. Musste mein Ziel vor Augen behalten.
Kapitel 17
ETIENNE
Man konnte ohne nennenswerte Schwierigkeiten sagen, dass ich ein echter Mistkerl war. Und das nicht einmal wirklich freiwillig …
Yves erschien nicht zum Dinner und ich machte mir Sorgen um ihn. So sehr, dass ich hinter meiner Tür
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